Die Einteilung unserer wöchentlichen Leseabschnitte der Tora ist eine Tradition, die es schon seit mehr als tausend Jahren in unveränderter Form gibt. Mit diesem von unseren Weisen eingeführten System wird einmal im Jahr die ganze Tora in der Synagoge vorgelesen. Dabei kommt auch den Namen der einzelnen Toraabschnitte besondere Bedeutung zu. Sie sind nicht bloß ein Stichwort, sondern sagen – gleichsam als Überschrift – einiges über den Inhalt unseres Textes aus.

Der Lubawitscher Rebbe hat diesen Zusammenhang anhand mancher Beispiele aufgezeigt, eines davon betrifft den Leseabschnitt dieser Woche „Lech Lecha".

Dieser Titel „Lech Lecha" wird meistens mit „gehe hinaus" (nämlich aus deiner Heimat) übersetzt. Diese Übersetzung bringt zum Ausdruck, dass Abraham aufgefordert wird, sein Heimatland, das Haus seines Vaters, seine vertraute Umgebung zu verlassen, um in ein fremdes, unbekanntes Land zu gehen, das G-tt ihm erst zeigen wird.

Diese an sich korrekte Übersetzung ins Deutsche spiegelt jedoch nicht alle Facetten des hebräischen Originals wider. Wörtlich genommen steht da nicht „gehe hinaus" sondern „Lech Lecha” – „gehe zu dir" oder vielleicht könnten wir auch sagen: „Gehe für dich".

Was soll das heißen? Abraham soll doch von zu Hause weggehen – also gerade nicht „zu sich". Die Antwort lautet: Indem er seine bisherige Umgebung verlässt, hat er die Möglichkeit, zu sich selbst zu finden, kann – zeitgemäß ausgedrückt – sich selbst verwirklichen. Wozu aber – fragen wir – braucht Abraham da einen g-ttlichen Befehl? Er hatte schließlich bereits den primitiven Götzendienst seiner Umgebung überwunden, hatte – als Vater des Monotheismus – den einen und einzigen G-tt gefunden. Wozu also jetzt die Direktive zur spirituellen Selbstfindung von oben?

Wirkliche geistige Entwicklung setzt voraus, dass man sich von seinem gegenwärtigen Zustand verabschiedet. Solange jedoch das Wachstum ausschließlich auf den eigenen Kräften beruht, wird der Fortschritt ein beschränkter sein; niemand kann die Grenzen des eigenen Intellekts überwinden, niemand kann über seinen eigenen Schatten springen. Ist der Fortschritt hingegen ein von G-tt initiierter, so gibt es keine Grenzen für das individuelle Wachstum. G-tt, der Unendliche, kann eine Person weit über ihren natürlichen Horizont hinaus tragen.

Abrahams Bereitschaft, sich nicht nur auf den eigenen Intellekt zu stützen und auf G-ttes Aufforderung zu antworten, erschloss ihm eine eine direktere Verbindung mit seinem Schöpfer. Und bei diesem Prozess wurde ein unbegrenztes Potential freigesetzt, denn im Innersten ist die Seele jedes Juden „tatsächlich ein Teil G-ttes” (Tanja, Kap. 2). Dies ist dann auch die Essenz jeder spirituellen Reise und Entwicklung: Die Grenzen des eigenen Denkens und Handelns zu überwinden, und diesen g-ttlichen Kern anzurühren.

Als Nachkommen Abrahams ergeht die Aufforderung zur wahren Selbstfindung auch heutzutage an jeden und jede von uns; und so wie unser Vorvater Abraham haben auch wir die Möglichkeit, die eigenen Grenzen zu sprengen: zu entdecken, wer er/sie ist, was G-tt ist, und dass die beiden eins sind.