Am Beginn der Toralesung dieser Woche befinden wir uns mitten in der Rede die Moses an das jüdische Volk kurz vor dem Einzug ins Land Israel richtete. Unser Leseabschnitt beginnt mit den Worten: „Ihr steht heute, ihr alle, vor G-tt ..."

Die Gelehrten des Talmud erklären, dass der Tag, an dem dies stattfand Rosch Haschana, das Neujahrsfest war. Und so passt es auch sehr gut, dass wir diesen Wochenabschnitt immer am Schabbat vor Rosch Haschana lesen.

Der Samstag vor Rosch Haschana ist ein ganz besonderer Samstag. Normalerweise ist es unser Brauch, am Samstag vor einem Neumond in den Synagogen einen speziellen Segen für diesen kommenden Monat zu sagen. Nicht jedoch vor Neujahr. Ausgerechnet den ersten Monat, den Anfang eines neuen Jahres, segnen wir nicht? Der wäre doch der wichtigste! Eben deshalb segnen wir ihn nicht - denn diesen Segen gibt G-tt höchstpersönlich.

Der Baal Schem Tow und andere chassidische Lehrer nach ihm erklärten diesen Zusammenhang noch etwas ausführlicher: Der Satz mit dem unser Wochenabschnitt beginnt - „Ihr steht heute, ihr alle, vor G-tt ..." - bezieht sich auf das erfolgreiche Bestehen des jüdischen Volkes im Gericht, das G-tt zu Rosch Haschana abhält. Wir fallen nicht, sondern wir „stehen", und zwar „alle". Und bekommen so G-ttes Segen für das neue Jahr. Mit der Kraft, die wir aus G-ttes Segen am Beginn des Jahres schöpfen, sind wir dann in der Lage, all die folgenden Monate selbst zu segnen.

Verantwortung füreinander

Wichtig für das Verständnis dieser Interpretation ist die Bedeutung der Worte „ihr alle". Viele Kommentatoren leiten daraus eine gegenseitige Verantwortung des jüdischen Volkes füreinander ab. Niemand kann für sich alleine stehen, alle sind füreinander verantwortlich. Lesen wir im Text der Tora noch einen Satz weiter, so sehen wir aber, dass es nicht bei einem pauschalen „alle" bleibt. Da werden noch einzelne Gruppen genannt - die Richter, die Kinder, u.s.w. Ganz verschiedene Leute kommen vor, vornehme ebenso wie solche, die wir auf den ersten Blick für nicht so bedeutend halten würden. Daraus sehen wir, dass die Einheit des jüdischen Volkes sehr wohl beinhaltet, dass jedes einzelne Individuum seine speziellen Fähigkeiten entfaltet.

Jeder und jede von uns hat besondere Begabungen und Qualitäten. Diese sollen nicht ignoriert werden, ganz im Gegenteil. Genauso wie ein Organismus in seiner Gesamtheit nur dann gesund ist, wenn die einzelnen Teile gesund sind, gelingt die Einheit des jüdischen Volkes erst so richtig, wenn die einzelnen Spezialitäten und Qualitäten zum Tragen kommen.

Die Grenzen des Individualismus

Wichtig ist nur, dass der Individualismus nicht so weit führt, dass die Sorge um die Mitmenschen zu kurz kommt. Wir alle, gemeinsam, stehen Rosch Haschana vor dem g-ttlichen Gericht und indem wir unsere gemeinsame Verantwortung füreinander wahrnehmen, sind wir nicht nur viele Einzelne an einem Ort, sondern werden tatsächlich zu einer Einheit.

In dieser Einheit empfangen wir den Segen G-ttes für das Neue Jahr und sind dann in der Lage, ihn im Lauf des Jahres jedes Monat neu umzusetzen.