Das Gehirn ist das nützlichste aller Werkzeuge, aber die Meinungen darüber, wie man es am besten nutzt, gehen auseinander. Manche sagen: „Ich nutze meinen Verstand, damit ich den materiellen Herausforderungen des Lebens gewachsen bin. Dabei sind Vernunft und Logik verlässliche Hilfsmittel. Aber wenn es um mein inneres, spirituelles Leben geht, taugt die Waage der Logik nicht. Dann wende ich mich an mein unbewusstes, intuitives Selbst.“

Andere vertreten das Gegenteil: „Die spirituelle Seite des Lebens braucht den Verstand am dringendsten. Wenn im materiellen Bereich etwas schief geht, ist das nicht das Ende der Welt. Aber in meinem spirituellen Leben soll alles stimmen. Darum messe ich jede Tat, jeden Gedanken und jedes Gefühl mit dem feinsten Messinstrument, das ich habe – mit dem Verstand.“

Wer hat Recht oder Unrecht? Einem faszinierenden Midrasch über Jaakows Schlafgewohnheiten zufolge haben beide Unrecht! Im 28. Kapitel der Genesis lesen wir, dass Jaakow auf seiner Reise vom Heiligen Land nach Charan eine Nacht auf dem Berg Moria (dem „Tempelberg“) verbringt: „Er kam an den Ort und schlief dort, denn die Sonne war untergegangen ... und er legte sich dort nieder.“ Was bedeutet der scheinbar überflüssige Satz „und er legte sich dort nieder“? Wir wissen ja bereits, dass er dort geschlafen hat! Was verbergen diese Worte?

Der Midrasch sagt: „An diesem Ort legte er sich nieder, aber in den vierzehn Jahren, als er sich im Hause von Eber verbarg, legte er sich nicht nieder ... An diesem Ort legte er sich nieder, aber in den zwanzig Jahren, die er in Labans Haus verbrachte, legte er sich nicht nieder.“

Die Nacht, die Jaakow am heiligsten Ort auf Erden verbrachte, wurde von besonderen spirituellen und materiellen Phasen seines Lebens eingerahmt. In den vierzehn Jahren vor dieser Nacht widmete er jeden Augenblick dem Streben nach g-ttlicher Weisheit. In den zwanzig folgenden Jahren arbeitete er so hingebungsvoll für Laban, dass „der Schlaf meinen Augen entfloh“. Aber in dieser einen Nacht zwischen den beiden Perioden legte er sich hin.

Wer sich hinlegt, legt den Kopf und den Körper auf eine Ebene. Dadurch gibt er den größten Vorteil auf, den Menschen gegenüber Tieren haben, denn normalerweise ist der Kopf der höchste Punkt des Körpers. Der aufrechte Gang des Menschen spiegelt eine tiefe Wahrheit wider: Der Geist regiert das Herz, denn der Kopf ist der Herr des physischen Körpers. Dies, sagt der Lubawitscher Rebbe, ist der tiefere Sinn der Aussage im Midrasch, dass Jaakow sich nicht „niederlegte“. Von Jaakow lernen wir, dass der Geist das Herz regiert, und zwar in allen Bereichen des Lebens, vom spirituellsten bis zum materiellsten. Das gilt für alle Aspekte des Lebens – außer wenn wir auf dem Berg Moria sind. Denn dort herrscht eine höhere Wahrheit, die das Materielle und Spirituelle, den Verstand und den Instinkt transzendiert.

G-tt ist weder spirituell noch materiell. Er hat beide Ebenen geschaffen und ist in beiden zugleich anwesend. Und er gibt uns die Möglichkeit, beide Ebenen zu erreichen: Das Gebet ist ein spirituelles Tor zu G-tt, und Wohltätigkeit ist ein materielles Tor. Außerdem hat G-tt uns einen Wegweiser gegeben: den Verstand, mit dem wir in beiden Lebensbereichen zurechtkommen. Aber wir müssen uns auch mit der höheren g-ttlichen Wahrheit verbinden, die über Geist und Materie hinausgeht. Nur dank dieses Bandes können wir zwei so unterschiedliche Welten bewohnen und sie sogar in unser Leben integrieren. Darum musste Jaakow eine Nacht an dem Ort verbringen, wo G-tt sich dem Menschen am klarsten offenbart hat und wo der Mensch G-tt am innigsten gedient hat, an dem Ort, wo die elementare g-ttliche Wahrheit enthüllt wird. Nur eine Begegnung mit dem Berg Moria kann unsere „Eber-Jahre“ und unsere „Laban-Jahre“ verbinden. Allerdings gibt es auf dem Berg Moria weder Regeln noch Werkzeuge. Wir können dort nicht verstehen, nicht erfassen, nicht erfahren. Wir können uns nur hingeben, uns nur „niederlegen“.

Die Augenblicke auf dem Berg Moria sind sehr selten. Für Jaakow genügte eine einzige Nacht in 34 Jahren. Es ist nicht wichtig, wie oft oder wie lange wir dort sind. Wichtig ist vielmehr, dass der Einfluss des Berges Moria alles durchdringt, was wir tun.