Dies ist das Problem: Sie sind hier und wollen woanders sein (an einem besseren, erhabeneren, spirituelleren Ort). Aber Sie sind nicht dort und werden in absehbarer Zeit nicht dort sein – vielleicht nie.

Handeln Sie nun, als wären Sie dort? Oder sagen Sie: Hier ist es auch schön; warum soll ich überhaupt weitergehen?

Sie können ein Heuchler werden oder sich mit Ihren Grenzen abfinden. Aber es gibt noch einen dritten Weg, den Weg der langen Stange.


In der äußeren Kammer des Heichal (Heiligtums) im heiligen Tempel stand die Menora, ein fünf Fuß hoher, siebenarmiger Leuchter aus purem Gold. Jeden Morgen füllte ein Priester die sieben Lampen mit reinstem Olivenöl, und nachmittags stieg er auf eine Leiter mit drei Sprossen, um die Lampen anzuzünden. Die sieben Flammen brannten die ganze Nacht und symbolisierten das g-ttliche Licht, das vom heiligen Tempel aus die ganze Welt erhellte.

Wer die Lampen anzündete, musste aber kein Priester (Kohen) sein, denn das Gesetz erlaubt auch einem Laien, diese Mizwa zu befolgen. Doch es gibt auch ein Gesetz, das den Zugang zum Heiligtum allein den Priestern erlaubt. Laien durften nur bis zum Tempelhof (Asara) gehen.

Diese beiden Gesetze sind juristisch paradox: ein Laie darf die Menora anzünden, aber die Menora muss im Heiligtum stehen, und das darf der Laie nicht betreten!

Es gibt Lösungen: Ein Laie kann die Menora mit einer langen Stange anzünden, oder ein Priester kann ihm die Menora bringen und sie dann an ihren Platz zurückstellen. Dennoch bleibt der Widerspruch: Wenn die Tora einem gewöhnlichen Juden erlaubt, die Menora anzuzünden, warum wird der Leuchter dann nicht an einen Platz gestellt, der jedem zugänglich ist? Und wenn die Menora so heilig ist, dass sie unbedingt im noch größeren Heiligtum stehen muss, warum gestattet die Tora dann einem Laien, sie anzuzünden, obwohl das Heiligtum ihm verschlossen bleibt?

Dieses Paradoxon, erklärte der Lubawitscher Rebbe, ist Absicht. Die Tora will uns damit eine tiefgründige Lehre erteilen – die Lehre von der langen Stange.

Sie besagt: Wir müssen nach spirituellen Höhen streben, die außerhalb unserer Reichweite liegen. Gewiss, wir sollen nicht vortäuschen, etwas zu sein, was wir nicht sind (das wäre, als würde ein Laie das Heiligtum betreten); aber wir dürfen auch nicht in unseren Bemühungen nachlassen, diesen Ort zu erreichen. Selbst wenn wir wissen, dass wir ihn nie erreichen werden, können wir ihn dennoch beeinflussen, auf ihn einwirken und ihn sogar erleuchten.

Das bedeutet manchmal, das jemand uns von diesem höheren Ort aus die Hand reicht. Ein andermal bedeutet es, dass wir herausfinden, wie wir über unseren derzeitigen Platz hinausreichen können. In beiden Fällen sind wir, was Rabbi Scholom DowBer von Lubawitsch „Lampenanzünder“ nannte: ein Mensch, der eine lange Stange mit einer Flamme am Ende trägt und eine Lampe nach der anderen anzündet. Keine Lampe ist zu niedrig, und keine ist zu hoch für den Lampenanzünder und seine Stange!