In den letzten Versen der Thora erfahren wir vom Tod Moses. Davor wird er für seine Überragenheit als „Meister der Propheten“ und für seine wunderlichen Taten von der Thora hoch gepriesen. In diesem Sinn endet auch die Thora: Und nach aller starken Macht und allem Großen, das Mose vor den Augen ganz Israels ausgeführt hat.

Auf welche großartige Leistung spielt die Thora mit den Worten vor den Augen ganz Israels an? Der Thorakommentator Raschi erklärt: „Dass er sein Herz erweckt hat die Steintafeln vor den Augen ganz Israels zu zerbrechen. Und G-tt lobte ihn dafür: Danke, dass du sie zerbrochen hast!“1

Wenn man diesen Vers liest, stellt sich sofort die Frage: War denn wirklich das Zerbrechen der Steintafeln durch Mose so tugendhaft, dass die Thora es für richtig hält mit dieser Tat die Lobesworte für Mose abzuschließen? Hatte er überhaupt dafür Lob verdient?

Kein Ehevertrag

Den Grund dafür, dass Mose die Steintafeln zerbrochen hatte, erklärt Raschi anhand eines Gleichnisses an einer anderen Stelle der Thora: „Ein König ging in ein fernes Land und ließ seine Verlobte mit den Mägden zurück. Wegen verderblicher Taten der Mägde kam es zu schlechten Gerüchten über die Verlobte. Deshalb nahm der Brautführer den Ehevertrag und zerriss ihn mit der Begründung: Wenn der König seine Verlobte bestrafen möchte, werde ich ihm sagen, dass es keinen Ehevertrag gibt und sie noch nicht seine Frau ist. Und das ist die Moral des Gleichnisses: Der König ist G-tt; die Mägde sind das Mischvolk; der Brautführer ist Mose, und die Verlobte ist das jüdische Volk.“2 Das Zerbrechen der Steintafeln also galt keineswegs als Strafe für das jüdische Volk, sondern das Gegenteil trifft zu: Durch das Zerbrechen der Steintafeln rettete Mose das Volk vor dem Zorn G-ttes.

Die Bereitschaft für alles

Nun wird verständlich, weshalb die Thora Mose für das Zerbrechen der Steintafeln so sehr lobt, dass die gesamte Thora sogar mit der Erzählung darüber abgeschlossen wird. Jedermann begreift, wie wertvoll die Steintafeln für Mose, welcher als „Empfänger der Thora“ gilt, waren. G-tt selbst brannte in sie die Zehn Gebote und übergab sie Mose höchstpersönlich.

Doch als Mose erkannte, dass die Existenz der Steintafeln eine Gefahr für das jüdische Volk darstellen könnte, zögerte er keinen Moment (und fragte nicht einmal G-tt), sondern zerbrach die Steintafeln um das jüdische Volk so vielleicht retten zu können! Für wen tat Mose all dies? Für die Abtrünnigen im Volk, die sich mit dem Goldenen Kalb versündigt hatten!

Darin besteht Moses größte Tugend: Er war nicht nur bereit sich selbst aufzugeben für das jüdische Volk, indem er zu G-tt sagte:3 „Wenn Du ihnen für die Sünde des Goldenen Kalbs nicht vergibst, so lösche meinen Namen aus der Thora”, sondern er zerstörte sogar den größten Schatz, den G-tt gefertigt und ihm übergeben hatte, um jene im Volk zu retten, die gesündigt hatten! In seiner großen Hingabe zum Volk war Mose bereit alles ihm Teure aufzugeben, wenn er dadurch sein Volk retten könnte.

Deshalb, nachdem die Thora Mose für seine Leistungen hoch preist, wählt sie für seine größte Tugend die abschließenden Worte „Vor den Augen ganz Israels – dass er sein Herz erweckt hat die Steintafeln zu zerbrechen“. Mose erweckte sein Herz, das heißt, sein Herz füllte sich so stark mit Liebe zum Volk, dass sie die Liebe und Ehre zur Thora überwand und er dadurch die Steintafeln für die Rettung des Volkes zerbrach. So stark war die Liebe Moses selbst zu den Sündern im Volk! So stark soll unsere Liebe zu jedem Juden sein!

(Likutej Sichot, Band 34, Seite 217)