Die dieswöchige Parascha scheint einen großen Widerspruch zu enthalten. Zu Anfang der Parascha wird über den Jom Kippur gesprochen, den heiligsten Tag im gesamten jüdischen Kalender. Der Tag, von dem unsere Weisen s. A. sagen, dass das jüdische Volk an ihm Engelswesen gleichkommt. An jenem Tag läutert sich das Volk vor G-tt. In derselben Parascha hingegen, warnt die Tora uns vor den schwersten moralischen Vergehen: "Decke nicht die Blöße deines Vaters oder deiner Mutter auf", "übe keinen Beischlaf mit irgendeinem Tier aus", "begehe keine dieser Abscheulichkeiten", usw. Dies sind nicht gerade Warnungen, wie man sie an Engelswesen gerichtet erwarten würde. Weshalb werden also diese beiden, in scheinbar direktem Gegensatz zueinander stehenden, Themen im gleichen Wochenabschnitt erwähnt? Eine Antwort auf diese Frage findet sich bereits im Namen der Parascha: "Acharei" bedeutet "nach(dem)", entsprechend dem ersten Passuk der Parascha, "und G-tt sprach zu Moses nach dem Tod der beiden Söhne Aarons, als diese sich G-tt näherten und starben" [Wajikra 16, 1].
Jom Kippur ist eine Zeit, in der das jüdische Volk G-tt näher kommt. Diese Erfahrung muss allerdings nicht eine in sich abgeschlossene Begebenheit bleiben. Vielmehr sollen wir an diesem Tag auch das "Nachher" im Auge behalten. Und die Art und Weise, in der wir uns an Jom Kippur mit G-tt verbinden, soll uns dabei helfen, jene Verbindung auch in der Zeit nach Jom Kippur aufrecht zu erhalten.
Das tiefe Verlangen unserer Seele nach der Nähe zu G-tt, sowie unsere spirituellen Erfahrungen, sollen gerade Eingang in unser alltägliches Leben finden. Spiritualität und religiöse Erfahrung sind nämlich nicht einfach nur eine zusätzliche Bereicherung in unserem Leben, sondern integraler Bestandteil und Begleiter in jeder denkbaren Lebenssituation. Indem wir unsere materielle und unsere spirituelle Existenz miteinander verbinden, werten wir nicht nur unseren Alltag auf, wir verbessern somit die Welt in der wir leben. Wir bringen auf diese Weise Heiligkeit in die Welt und verwandeln sie in eine "Dira B'Tachtonim", d. h. in eine Wohnstätte für die G-ttliche Gegenwart.
Aus dem Grund lesen wir die betreffenden Passagen über verbotene intime Beziehungen sowie Handlungen in derselben Parascha, in der zuvor der Opferdienst am Jom Kippur beschrieben wird - und in der Tat lesen wir jene Passagen über verbotene Beziehungen ebenso am Jom Kippur selbst.
Wir alle erfahren Momente, in denen unsere Herzen inspiriert sind, in denen wir uns im Einklang mit unseren innersten Sehnsüchten wähnen, in denen wir uns G-tt nahe fühlen - so, wie an Jom Kippur. Momente, in denen wir scheinbar von allen irdischen Belangen und Sorgen losgelöst sind. Selbst in diesen Momenten sollen unsere Augen gleichzeitig nach unten gerichtet sein. Die spirituelle Kraft, die wir in bzw. aus solchen Momenten beziehen, sollen wir dazu nutzen, unseren täglichen Dienst an G-tt zu verbessern sowie uns darin zu bestärken, den moralischen Koordinaten zu folgen, die uns unser Schöpfer vorgegeben hat - auch und gerade in solchen Momenten, in denen wir gegenteiligen Versuchungen ausgesetzt sind.
(Basierend auf den Lehren des Lubawitscher Rebben)
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