Gern erzähle ich folgende Geschichte, die ich von einer befreundeten Psychologin hörte.
Diese Frau hat einen Patienten, den sie schon mehr als drei Jahrzehnte behandelt. Über viele Sitzungen sind sie gemeinsam den tiefen Verunsicherungen nachgegangen, die eine ganz bestimmte traumatische Kindheitserfahrung bei ihm hinterlassen hat.
Es war Silvesterabend, und er war gerade sechs oder sieben Jahre alt. Die Eltern wollten ausgehen, um Silvester mit Freunden zu feiern. Ihn und seine Schwester ließen sie in der Obhut eines Babysitters. Kurz bevor sie das Haus verließen, bückte sich sein Vater, in einem unglücklichen Anflug von Humor zu ihm herunter, sah ihm in die Augen und sagte mit ernster Miene: „Wir sehen uns dann im nächsten Jahr!“
Wie sollte der Junge wissen, was der misslungene Witz seines Vaters zu bedeuten hatte? Die gesamte Nacht wälzte er sich hin und her, und zerbrach sich den Kopf darüber, dass er nun seine Eltern ein ganzes Jahr nicht sehen würde.
Sklaven der Vergangenheit
Es gibt eine These, die besagt, dass wir alle Sklaven der Ereignisse und Bedingungen unserer Kindheit sind, und zwar in gleichwertiger Gewichtung zu unseren genetischen Anlagen. Jede zukünftige Angewohnheit, Neigung und Eigenschaft kann zurückgeführt werden auf das eine oder andere, was uns als Kinder passiert ist.
Gemäß dieser Sichtweise, wäre das gesamte Leben eine einzige Konsequenz, Gewinn oder Strafe – ein Leben lang. Wir profitieren oder unterlassen unter dem Einfluss derjenigen Menschen, die in unserer frühesten Kindheit wichtig waren. Unser gegenwärtiges und zukünftiges Glück, unser innerer Frieden und unsere Lebenserfolge hängen in tiefer Weise von unserer Vergangenheit ab.
Es wäre durchaus nicht abwegig, zu dem Ergebnis zu kommen, dass Freunde, Lehrer oder Psychotherapeuten keinen Einfluss hätten.
Nehmen wir zum Beispiel diesen Witz.
Ein Mann betritt eine Bar, um sich einen Drink zu bestellen. Nachdem er eine Menge Whiskey hinunter geschlungen hat, wirft er plötzlich das letzte leere Glas an die Wand hinter den Barkeeper. Als der Barmann die tausend Scherben sieht, sagt er genervt: „Sie brauchen anscheinende einen Psychologen!“ Der Mann verlässt die Bar.
Sechs Monate später erscheint er wieder. Er stürzt einige Whiskey hinunter und wirft das Glas an die Wand. „Mein Herr!“ ruft der Barkeeper mit scharfem Ton, „Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen einen Seelenklempner aufsuchen?“
„Ich habe Ihren Rat ernst genommen, und bin in Therapie gegangen.“ antwortet der junge Mann, „und ich freue mich, Ihnen berichten zu können, dass ich mich nicht länger schäme für mich und meine Eigenarten!“
Da haben wir einen Mann (und einen Psychologen), der sich dem Gedanken verschreibt, dass nur glücklich sein kann, wer sich selbst akzeptiert. „So bin ich eben.“
Meister der Gegenwart
Glücklicherweise gibt es eine zweite, weitaus optimistischere These. Während es stimmt, dass wir sicher nicht der Herr über unsere Vergangenheit sind, sind wir dennoch auch nicht seine Sklaven. Wir können nicht ändern, was war, aber wir können sehr wohl beeinflussen, was heute ist.
Mit einer dementsprechenden Geisteshaltung und Disziplin, können wir sogar neue Einstellungen und Verhaltensmuster kreieren, die uns helfen, negative Neigungen und Veranlagungen in den Griff zu bekommen.
In der Sprache der jüdischen Mystik1 „beherrscht der Geist das Herz“, was bedeutet, dass wir uns in Willenskraft üben können.
Denk einmal über den folgenden Satz eines mir bekannten Kettenrauchers nach. „Ich habe gerade einen Artikel über die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens gelesen. Das hat mir wirklich die Laune verdorben. Also lasse ich es…. Ab morgen lesen ich nicht mehr!“
Und dann die Geschichte vom letzten Lubawitscher Rebben, der einst, zu einer Zeit, in den 40er Jahren, in denen die Gefahren des Rauchens noch unbekannt waren, ebenfalls stark rauchte. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er ein sehr vertrauensvolles Gespräch mit seinem Arzt hatte, der ihm diese Gefahren verdeutlichte. Am Ende des Gespräches zog der Arzt ohne mit der Wimper zu zucken ein Zigarettenpäckchen aus seiner Tasche und hielt es seinem Patienten vor die Nase: „Aber ich rauche nicht!“ sagte der Rebbe. „Habe ich richtig verstanden?“ fragte der verdutzte Doktor. „Ja, ich habe geraucht, das stimmt,“ erklärte der Rebbe, „aber das hat sich vor ein paar Minuten geändert, als du mir die Gefahren des Rauchens erklärt hast.“
Wahrhaftige Veränderung geschieht nur, wenn ein echter Wunsch nach Veränderung existiert. Der Wunsch nach Veränderung aber kann nur in dem Glauben entstehen, dass Veränderung überhaupt möglich ist. Und dann werden für den, der diesen Glauben innehat, die „Zigaretten“ des Lebens – Süchte, Versuchungen und schlechte Angewohnheiten, in den Griff zu bekommen sein. Für jemanden, der nicht daran glaubt, dass Veränderung möglich ist, ist allein das Lesen über die Gefahren unseres Lebensstiles gefährlich.
Aber diese Philosophie von Willenskraft beinhaltet, dass unsere Eigenarten uns definieren, nicht jedoch unsere Umstände. Es ist nicht die Situation, auf die wir im Leben treffen, sondern die Art, wie wir darauf reagieren. Das ist es, was unser Lebensskript schreibt.
G-tt sei Dank führte diese Philosophie wesentlich stärker als die vorige zu einem rasanten Anstieg der sogenannten Selbsthilfeangebote, mit ihrem Boom an kraftspendender Literatur. Sie soll den Menschen helfen, wie sie ihr Leben meistern und ihr eigenes Schicksal formen können.
Meister der Vergangenheit
Und zu guter Letzt gibt es noch eine dritte These – die einzigartige Position des Judentums – die den Einfluss des Menschen nicht nur vorwärts, sondern auch zurück in die Vergangenheit ausweitet.
Wir haben die Begabung, früher erlebtes Negatives neu aufzusuchen und es zu positiven Kräften umzuformen. Manchmal können wir sogar unsere früheren schlechten Taten im Nachhinein in gute umdefinieren . Mit den Worten unserer Weisen, „Sogar absichtlich begangene Sünden können zu Verdiensten umgewandelt werden.2”
„Reue“ wird im Judentum als „Tschuwa“ bezeichnet, was Umkehr bedeutet, und mystisch nicht nur das Zurückkehren des Reuigen zum Frieden anzeigt, sondern auch die Umkehr der negativen Energie, die er durch seine Sünde einst erzeugt hat.
Eine Art, dieses Phänomen zu erklären, ist der Gedanke, dass eine Denkpause das Herz wachsen lässt. Also, je weiter sich ein Sünder von G-tt entfernt, - wie das Loslassen eines gespannten Gummibandes – umso kraftvoller und energetischer wird seine neue Verbundenheit mit G-tt.
Mit anderen Worten, wahre Reue ist nicht nur, seinen Fehltritt zu bedauern. Es ist ein Hinausgehen über den normalen Gang religiöser Hinwendung. Es ist so eine Art zusätzliche Explosion der Leidenschaften – und diese ist unter ganz normalen Umständen nicht erreichbar.
Das eklärt die talmudischen Lehren dass „an der Stelle, an der der Reuige (der Büßer) steht, der perfekte Zaddik (der Gerechte) nicht stehen kann.3“ Die Tatsache, dass er weiter von G-tt entfernt war als der Gerechte, kann ihn wesentlich näher zu G-tt zurückbringen und eine tiefere Beziehung zu ihm kreieren. Bei dem Erlebnis wahrer Reue, wird jeder Schritt, der den Sünder früher weiter von G-tt entfernt hat, zu einem weiteren Schritt näher.
Es gibt noch eine tiefere Art der Erklärung dieses Prozesses, der die Vergangenheit umzuformen vermag. Es ist nicht nur etwas Wertvolles im „Ergebnis“ einer Sünde - die mit anderen Mitteln nicht zu erreichende Nähe zu G-tt - sondern auch etwas Ausgleichendes über die Sünde selbst, und das ist der Grund, warum die Sünde des Büßers nicht nur ein Verdienst ist, sondern sogar eine Mizwa.
Es gibt Beispiele, bei denen die, die sich verirrt haben auf dem Weg zu Ehrlichkeit und Bescheidenheit zurückkehren, und von nun an ein Leben führen, in dem sie jene, die immer noch verirrt umherlaufen, anleiten und führen. Das eigene Erleben von schlechten Verhaltensweisen dient später einem positiven Zweck und wird deshalb als Mizwa bezeichnet.
Dies ist die Kraft und das Geschenk der „Tschuwa“ – der Fähigkeit den Eigenschaften der Zeit die Stirn zu bieten, indem wir ein „verlorenes“ oder noch negativer formuliert, ein „destruktives“ Stück unseres Lebens neu schreiben. Nun ist es unter unserer Kontrolle und Neugestaltung.
Ohne Ordnung
Dieses Verständnis von „Tschuwa“ wirft ein Licht auf eine Textbesonderheit, die im Zusammenhang mit der biblischen Geschichte des Zweiten Pessach steht, erzählt im Buch Numeri4. Einer Gruppe der Israeliten wurde die Opferung des Pessachlammes verboten, aufgrund ihrer rituellen Unreinheit. Sie flehten G-tt um einen Weg an, ihren Makel wieder gut zu machen, was im Endeffekt dazu führte, dass ihnen einen Monat später eine zweite Chance gegeben wurde, ihre Opfer darzubringen. Daraufhin wurde ein neues Gesetz der Tora erlassen. Es erteilte all denen dieselbe Erlaubnis, die sich in Zukunft in ähnlichen Lebensbedingungen befinden würden.
Diese Geschichte fand im ersten Monat des zweiten Jahres nach dem Auszug aus Ägypten statt. Was daran verwirrend ist, ist die Eröffnungspassage im Buch Numeri, die vor dieser Geschichte dargelegt wird. Sie findet im zweiten Monat dieses Jahres statt, einen ganzen Monat NACH der Geschichte des Zweiten Pessach. Warum? So fragen unsere Kommentatoren. Ihre Antwort ist zurück zu führen auf ein allgemeines Prinzip der Bibelauslegung5: „Es gibt in der Tora kein DAVOR oder DANACH.“ Das bedeutet, dass nicht alles, was in der Tora steht, chronologisch geschrieben wurde. Und dies ist nur ein Beispiel.
Die eigentliche Frage ist, warum die Tora ausgerechnet diese Geschichte wählte, die nicht in der richtigen Ordnung erzählt wird.
Nun, es gibt eigentlich keinen geeigneteren Platz für eine Geschichte der Tschuwa, um Ereignisse zu beschreiben, die nicht in chronologischer Reihenfolge stehen. Ist es nicht die einzigartige Funktion der Tschuwa, dass sie die Fähigkeit hat, alle Bindungen der Zeit umzuformen?
Die Worte der Rabbiner, „Es gibt kein DAVOR und DANACH in der Tora“ bekommen nun eine neue Bedeutung: Durch die Tora ist uns die Fähigkeit gegeben, alle Zeiten zu beherrschen.
Diskutieren Sie mit