„Wie sollte ich ihr antworten?“ fragte Rachel mich.
Ihre Schwiegermutter kam letzte Woche zu Besuch, und am Morgen ihres Rückfluges packte sie in Eile ihre Koffer, während Rachel eifrig in der Küche beschäftigt war.
„Was kann ich dir für den Rückflug zum Essen mitgeben?“ fragte Rachel sie.
„Oh, gar nichts, wirklich. Ich brauche nichts, es ist ja nur ein kurzer Rückflug.“
„Na, so kurz ist er auch nicht,“ sagte Rachel. „bitte lass mich eine Kleinigkeit zusammenstellen, bevor du uns verlässt!“
Ihre Schwiegermutter blieb hartnäckig. „Nein, bestimmt nicht. Ich komme klar!“
Da gab Rachel auf.
Später am Abend rief sie ihre Schwiegermutter zuhause an. „Nun, wie geht es dir, Mama? Wie war der Flug?“
„Ich hätte dir doch etwas für den Flug mitgeben sollen!“„Er war gut.“
„Oh, da bin ich froh. Wie fühlst du dich?“
„Naja, ganz ehrlich fühle ich mich nicht besonders. Ich habe mächtig Kopfweh vom Flug und bin total erschöpft. Aber keine Sorge, es geht schon. Ich hatte nur so furchtbaren Hunger und war richtig ausgetrocknet – ich wollte mir am Flughafen nichts zu essen kaufen, weil es so unverschämt teuer ist. Hast du mal gesehen, was sie für eine Flasche Wasser am Flughafen nehmen?“
Prompt stellten sich bei Rachel Schuldgefühle ein. „Ich hätte dir doch etwas für den Flug mitgeben sollen!“
„Mach dir keine Sorgen, ich weiß doch, du warst doch so beschäftigt mit den Kleinen…“
„Merkwürdig,“ Rachel resümierte, „ich weiß, sie wollte bloß nicht meine Zeit in Anspruch nehmen, als sie mein Angebot abwies. Aber im Endeffekt hat sie durch ihre selbstlose Art noch mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen.“
Bescheidenheit ist eine zweischneidige Eigenschaft.
Bescheidenheit wird uns als oberste Tugend gelehrt. Hier ein einschlägiger Fall. Die Tora macht aus dem Loben keine große Sache. In der Tat gibt es keine nennenswerte Erwähnung der Weisheit von Mose oder seiner Führungsqualitäten. Aber sie nimmt sich die Zeit, seine Bescheidenheit hoch zu loben:
„Und Mosche war ein sehr bescheidener Mensch, mehr als jeder andere Mensch auf Erden.“1
Im 18. Jahrhundert, legten die Lehren des Baal Schem Tow die Grundlagen zu einer Bewegung, die später als Chassidismus bekannt wurde. Als eine der Fundamente dieser auf den Lehren des Talmud fußenden Philosophie galt die Bescheidenheit. Der einfache Jude, so lehrte der Baal Schem Tow, kann allein aufgrund seiner Bescheidenheit maßgebliche spirituelle Höhen erreichen. Arroganz hingegen, so lehrte er, ist der Satan in Verkleidung.
Also ist Bescheidenheit eine Tugend!
Aber Selbstbehauptung ist auch eine Tugend.
Der Code jüdischer Gesetze beginnt mit folgendem Hinweis: „Lass dich nicht einschüchtern durch die Spötter!“ Ohne Selbstvertrauen würde es als Gesetzes treuer Jude schrecklich schwer sein.
Der Code jüdischer Gesetze beginnt mit folgendem Hinweis: „Lass dich nicht einschüchtern durch die Spötter!“Psychologen haben festgestellt, dass ein Empfinden für eigene Größe und Selbstwertigkeit eine der grundlegenden Eigenschaften für die seelische Gesundheit sind. Selbstvertrauen fördert auch Optimismus, Belastbarkeit und Ausstrahlung – all die Eigenschaften erfolgreicher Führungspersönlichkeiten.
Daher scheint es ungewöhnlich, dass ausgerechnet Mose – die größte Führungspersönlichkeit unserer Geschichte – für seine Bescheidenheit hervorgehoben wurde. Mose hatte Courage. Er trat für die Rechte seiner unterdrückten Brüder ein, und riskierte sein Leben für ihre Freiheit. Er war entschlossen. Als das jüdische Volk mit seinen Taten Fehler beging, sagte er es ihnen in aller Deutlichkeit. Als Korach seine Autorität herausforderte, behauptete sich Mose als der authentische Führer des jüdischen Volkes. Und doch lobt G-tt Mosche für seine Bescheidenheit!
Eine tiefere Prüfung von Bescheidenheit und Selbstbehauptung macht deutlich, dass sie nicht nur keine sich gegenseitig ausschließenden Qualitäten sind, sondern dass niemand von uns fähig ist, zu handeln, ohne sowohl die eine, als auch die andere Qualität zu besitzen.
Wie oft sträuben wir uns, uns selbst zu behaupten, weil wir zu selbstbewusst sind? Wir nehmen unsere Mängel so ernst, dass sie uns lähmen. Genauso wie ein Perfektionist, der ein Projekt nicht beenden kann, weil es nicht spektakulär genug für ihn ist. Wenn uns die Bescheidenheit Kraft nimmt, wissen wir eigentlich nur zu genau, dass wir unser Ego zu ernst nehmen.
Ironischerweise erfordert Selbstbehauptung häufig ein großes Maß an Bescheidenheit.
Etwas Ungewöhnliches zu tun, verlangt manchmal von uns, unser Image aufs Spiel zu setzen. Das bedeutet, dass ich mir selbst treuer bin, als andere Menschen von mir erwartet haben. Dies ist Selbstachtung, die von einem Bewusstsein der Seele herrührt.
Als G-tt all das sah, was Mose als Anführer bewältigt hatte, sah er tiefgründige Bescheidenheit. Mose wusste, dass sein Leben der Bestimmung folgte, das jüdische Volk aus Ägypten heraufzuführen bis an die Schwelle des Heiligen Landes. G-tt hatte ihm all die Talente verliehen, die zur Erfüllung der Mission nötig waren. Darüber hinaus war es Moses Aufgabe, jedes Quäntchen von seiner g-ttgegebenen Persönlichkeit auszuschöpfen, um seine besondere Mission zu erfüllen. Was ihn so effektiv und entschlossen machte, war sein demütiger Einsatz für die Bestimmung seines Lebens.
Moses Leben war der Zusammenschluss von Bescheidenheit und persönlicher Kraft. Es war angewandte Kunst, aber auch eine, die jeder Jude entwickeln kann und muss. Dies ist auch der Grund, warum G-tt sich dazu entschloss, uns die Tora ausgerechnet am Berg Sinai zu übergeben. Der Sinai war ein kleiner Berg. Der Midrasch erzählt uns, dass G-tt den Berg Sinai, und nicht einen imposanteren Berg auswählte, um uns die Tugend der Bescheidenheit zu lehren.
Wenn Bescheidenheit so vorrangig ist, warum gab G-tt uns die Tora dann überhaupt auf einem Berg?Eine Frage ist klar: Wenn Bescheidenheit so vorrangig ist, warum gab G-tt uns die Tora dann überhaupt auf einem Berg? Warum nicht auf einer Ebene oder sogar in einem Tal? Der bloße Terminus „Berg Sinai“ ist ein Widerspruch in sich. Er ist ein „Berg“. Gewaltig und majestätisch. Und er ist „Sinai“, kärglich, im Vergleich zu den anderen Bergen. Bescheiden. Demütig.
Der Wochenabschnitt Behar2 beginnt mit den Worten: „Und G-tt sprach zu Mosche am Berg Sinai („Behar Sinai).“ Wir nennen den Abschnitt „Behar“ - auf dem Berg. Nicht einmal „Behar Sinai“ - auf dem bescheidensten Berg – lediglich „auf dem Berg“. Als G-tt uns die Tora gab, und uns eingeführt hat in die Jüdischkeit, sagte er: „Du wirst wahrhaftig stark sein müssen als Jude“. Sei ein Berg mit einem Rückgrat. Sei ein charismatisches Licht für die anderen Völker und schere dich nicht darum, wenn sie über dich lachen.
Aber sei ein bescheidener Berg. Bescheiden in deiner Erkenntnis, dass all deine Stärke ausschließlich von G-tt kommt. Der Wert deines Lebens entsteht nicht aus deinem Image heraus, sondern aus deiner höheren Berufung. Miss dich nicht an den Standards deines Nachbarn, sondern am Potential deiner Seele.
Das ist wahre Bescheidenheit.3
Diskutieren Sie mit