Die Geschichte des Pessach ist allen bekannt ... wie das jüdische Volk in Ägypten versklavt war, wie Mosche uns aus der Gefangenschaft befreite und am Berg Sinai die Tora empfing ... wie wir nach vierzig Jahren in der Wüste ins Gelobte Land einzogen. Weniger bekannt ist jedoch, wie unsere Weisen die spirituelle Bedeutung dieser Ereignisse bewerten. Was bedeutet der Exodus heute für uns? Und was lehrt uns das "Fest der Befreiung" über die künftige Befreiung aller Menschen im messianischen Zeitalter? Die folgenden Seiten sind nur ein Auszug aus den Antworten der Rabbis.
Die Befreiung aus Mizrajim
Für die Juden ist "Ägypten" mehr als ein Ort auf der Landkarte - es ist ein seelischer Zustand. Der hebräische Name für Ägypten ist Mizrajim. Das Wort ist mit Majzorim verwandt, das "Grenzen" oder "Einschränkungen" bedeutet. Für das jüdische Volk bedeutet der Auszug aus Ägypten die Überwindung jener natürlichen Grenzen, die uns daran hindern, unser Potential voll zu nutzen.
Die innerste Essenz der Seele ist ein Funke G-ttlichkeit, unendlich und unbegrenzt. Doch die Seele lebt im Exil, in "Ägypten", das heißt, sie ist auf diese materielle Welt beschränkt. Das Ägypten eines Menschen zeigt sich in seinen egoistischen und niedrigen Wünschen oder im sklavischen Glauben an die Vernunft. Pessach ist eine Gelegenheit, unsere Grenzen zu überschreiten und das unbegrenzte spirituelle Potential in jedem Aspekt unseres Lebens zu erkennen.
Wahre Freiheit
Als G-tt Mosche befahl, das jüdische Volk aus Ägypten zu führen, verkündete er auch, was er damit bezweckte: "Sie sollen G-tt auf diesem Berge dienen." Unsere Befreiung war erst vollkommen, als wir am Berg Sinai die Tora empfingen. G-ttes Tora und seine Gebote sind der Schlüssel zur wahren Freiheit; sie befreien uns nicht nur von der physischen Versklavung, sondern auch von allen einschränkenden Überzeugungen und Verhaltensweisen. Die Tora zeigt uns, wie wir die Fallen vermeiden, die das Leben uns stellt, und sie lehrt uns, wie wir aus dieser Welt einen Ort des Friedens, der Harmonie und des Glücks für alle Menschen machen.
Mazzot und Chamez
Pessach ist als "Fest der Mazzot" Bekannt. Uns ist geboten, am ersten Abend des Pessach Mazzot zu essen und uns während der gesamten acht Feiertage von Gesäuertem (Brot und alle gesäuerten Speisen) zu befreien. Dieses wichtige Gebot schenkt uns tiefe Einsicht in die wahre Natur unserer Befreiung.
Der Unterschied zwischen Brot aus Sauerteig und einer Mazza ist klar: Während Brot aufgeht, gehen Mazzot nicht auf. Unsere Rabbis erläutern, daß das "aufgeblasene" Chamez Arroganz und Hochmut symbolisiert, die flache, ungesäuerte Mazza dagegen äußerste Demut.
Demut ist der Anfang der Befreiung und die Grundlage des spirituellen Wachstums. Nur wer seine Fehler gegenüber einer höheren Weisheit bekennt, kann seine Grenzen überwinden. Am Pessach dürfen wir nicht einmal die winzigste Menge Chamez zu uns nehmen - und wir sollen den Stolz und den Egoismus aus unserem Herzen verbannen. Wenn wir die Pessachmazzen essen, nehmen wir Demut und Selbsttranszendenz in uns auf - die Essenz des Glaubens.
Das Teilen des Meeres
Am siebten Tag des Pessach gedenken wir der wunderbaren Teilung des Roten Meeres. Dies war der Höhepunkt des Auszugs aus Ägypten. Das jüdische Volk, dem die ägyptischen Krieger hart auf den Versen waren, stieg ins Meer, und G-tt "verwandelte das Meer in trockenes Land" und schuf Mauern aus Wasser zu beiden Seiten, so daß sein Volk das Meer durchqueren konnte. Als die Juden das andere Ufer erreicht hatten, brachen die Wasserwände zusammen, und die Ägypter ertranken.
Unsere Weisen erklären, daß die Teilung des Meeres eine weitere Phase unserer spirituellen Reise zur wahren Freiheit symbolisiert. So wie das Wasser des Meeres alles verdeckt und verbirgt, was in ihm ist, so verbirgt diese materielle Welt die g-ttliche Lebenskraft, der sie ihre Existenz verdankt. Die Verwandlung des Meeres in trockenes Land symbolisiert die Offenbarung einer verborgenen Wahrheit: Diese Welt ist nicht von G-tt getrennt, sondern mit ihm eins.
Wenn wir Ägypten verlassen, also unsere Grenzen überschritten und eine höhere Ebene erreicht haben, erleben wir ein unangenehmes Erwachen. Wir haben zwar Ägypten verlassen, aber es ist immer noch in uns, und wir haben immer noch die Wertvorstellungen der materiellen Welt im Kopf. Wir müssen danach streben, uns der Gegenwart G-ttes und ihres Einflusses auf unser Leben noch bewußter zu werden, bis das Meer sich teilt und wir vollkommen frei sind.
"Beende die Herrschaft des Bösen"
Während wir am Morgen vor Pessach das Chamez verbrennen, können wir ein besonderes Gebet sprechen, das den tiefen Sinn dieser Mizwa offenbart. Das ist in vielen Gemeinden Brauch.
Möge es Dein Wille sein ... daß Du, während ich das Chamez aus meinem Hause entferne, den Geist der Unreinheit von der Erde nimmst, unsere bösen Neigungen tilgst, uns ein Herz aus Fleisch schenkst, damit wir Dir in Wahrheit dienen können ... und die Herrschaft des Bösen auf der Welt beseitigst ... so wie Du damals Ägypten und seine Götzen ausgelöscht hast ... Amen, Sela.
"Ich will euch Wunder zeigen"
Nach den Worten des Propheten Micha erklärt G-tt: "So wie in den Tagen, als ihr Ägypten verließet, will ich euch Wunder zeigen." Der Exodus aus Ägypten ist der Vorläufer der endgültigen Erlösung, die der Moschiach bringt. Sklaverei und Leiden werden dann für immer vom Antlitz der Erde verbannt.
Warum, fragen unsere Rabbis, heißt es in diesem Vers "wie in den Tagen, als ihr Ägypten verließet", obwohl der Exodus doch an einem einzigen Tag stattfand?
Die Antwort lautet: Die wahre Befreiung ist ein längerer Prozeß. Die ersten Schritte aus "Ägypten" sind nur der Anfang. "In jeder Generation", sagen uns die Weisen, "und an jedem Tag sind wir verpflichtet, uns so zu verhalten, als seinen wir an eben diesem Tag aus Ägypten ausgezogen." Wir müssen also alle Lehren aus dem Pessach jeden Tag anwenden. Wir müssen uns von Hochmut befreien und demütig werden. Wir müssen unser G-ttesbewußtsein vertiefen, als ob das Rote Meer sich teile. Und wir müssen uns bemühen, unser Verhalten zu verbessern, wie es sich für ein Volk gehört, das am Berg Sinai die Tora empfangen hat. Jeder Schritt in Richtung Tora und Mizwot bringt uns den Offenbarungen des messianischen Zeitalters näher.
Die endgültige Erlösung
Der achte Tag des Pessach ist traditionell mit unserer glühenden Hoffnung auf die Ankunft des Moschiach verbunden. Die Haftara (Lesung aus den Propheten) für diesen Tag enthält Jesajas berühmte Prophezeiung über die messianische Ära: "Der Wolf wird beim Lamme liegen, der Leopard beim Kind ... Sie werden einander nichts antun und nichts zerstören ... denn die Erde wird mit dem Wissen G-ttes gefüllt sein, so wie das Wasser die Meere bedeckt."
Maimonides (der Rambam) bezeichnet den Glauben an den Moschiach als eine der dreizehn wichtigen Prinzipien unseres Glaubens. In seiner Sammlung jüdischer Gesetze erläutert er, daß der Moschiach ein Toragelehrter ist, der allen Juden zeigt, wie sie nach den Gesetzen der Tora leben können. Schließlich wird er den Heiligen Tempel zu Jerusalem aufbauen, die verstreuten Juden nach Israel führen und ein Zeitalter einleiten, in dem es weder Hunger noch Krieg, weder Eifersucht noch Streit gibt.
Zeichen der Hoffnung
In der chaotischen Welt von heute mag es manchem schwerfallen, an die bevorstehende Erlösung zu glauben. Aber die Geschichte des Pessach macht uns Mut. Damals kam die Erlösung rasch, "in einem Augenblick", und wir waren frei, obwohl unser Volk sich in den Händen des mächtigsten und grausamsten Volkes der Welt befand, aus dem noch nie ein Sklave entkommen war.
In jüngster Zeit waren wir Zeugen erstaunlicher Ereignisse (selbst weltliche Führer sprachen von "Wundern"): der Zusammenbruch des Kommunismus, der Golfkrieg, der Exodus von unterdrückten Juden nach Israel. Heute verringern viele Völker ihre Rüstung und suchen die Zusammenarbeit - sie "schmieden Schwerter zu Pflugscharen". Diese Entwicklung - die seit langem als Vorbote des messianischen Zeitalters gilt - stärkt unseren Glauben an die bevorstehende Ankunft des Moschiach. Der letzte Tag des Pessach ist eine einzigartige Gelegenheit, aus ganzem Herzen für den Moschiach zu beten: "Wiewohl er säumen mag, erwarte ich seine Ankunft jeden Tag." Es wird eine Zeit des Friedens und der Fülle für alle Menschen sein, und wir werden, wie Maimonides sagte, nicht mehr um unseren Lebensunterhalt kämpfen müssen. "Köstliche Speisen werden so reichlich vorhanden sein wie Staub, und wir werden Zeit für das Spirituelle haben, um unser Wissen über G-tt zu vertiefen."
Ein Vorgeschmack des Kommenden
Der Baal Schem Tow, der Gründer des Chassidismus, führte den Brauch ein, am letzten Tag des Pessach ein drittes Mahl mit Mazzen und Wein einzunehmen. Dieses Mahl heißt "Festmahl des Moschiach" und hat den Zweck, uns klarzumachen, daß die Ankunft des Moschiach unmittelbar bevorsteht. An diesem Tag, heißt es, kann man das Kommen des Moschiach geradezu spüren. "Siehe", heißt es im Buch der Lieder, "er steht hinter unserer Wand und schaut durch die Fenster und Spalten."
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