1. Im heutigen Wochenabschnitt steht „und Mosche nannte Hoschea, dem Sohn von Nun, Jehoschua“, dazu führt die Gemara1 aus, dass unser Meister Mosche betete: „Der Ewige soll dich erretten vor dem Ratschluss der Späher“. Dies bedarf einer Erklärung, da ja an jenem Zeitpunkt noch kein Makel an den Spähern haftete. Dies wiederum ergibt sich zwingend daraus, dass sich unser Meister Mosche bereit erklärt hat, sie auszusenden (was ja von ihm abhing, wie geschrieben steht „Sende dir – nach deinem Verstand“). Wieso also betete dann Mosche „Der Ewige soll dich erretten vor dem Ratschluss der Späher“?

Nun könnte man annehmen, dass die Späher zwar von jedem Makel frei waren, Mosche aber trotzdem befürchtete, dass etwas geschehen könne. Dann aber wäre es unverständlich, warum Mosche nur für Jehoschua gebetet hätte, und nicht alle Späher.

2. Es steht in der Gemara2 „so ist das Handwerk des schlechten Triebes. Heute sagt er tue dies und morgen sagt er tue jenes, bis er dir sagt diene einem fremden G“ttesdienst“. Diese Gemara erklärt, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass ein Jude eine Übertretung begeht. Denn jeder Jude ist ein Nachfahre von Awraham, Jizchak und Ja'akow und er besitzt eine Seele, von der es heißt „die Seele, welche Du in mich gegeben hast, rein ist sie. Du hast sie erschaffen, Du hast sie geformt, Du hast sie mir eingehaucht und Du bewahrst sie in meiner Nähe auf“. Wie kann es dann dazu kommen, dass er eine Weisung seines Schöpfers missachtet? Darauf antwortet die Gemara, dass das Handwerk des schlechten Triebes eben darin besteht, dies auf allmähliche Weise zu bewerkstelligen.

Es ist wichtig, die Gebote auf schöne Weise zu erfüllen, denn – wie es die Gemara sagt – es ist möglich ein Gebot zu erfüllen, ohne ihn zwar zu genügen. So behauptet der schlechte Trieb anfangs, dass es zwar wichtig ist, das Gebot zu erfüllen, aber nicht nötig ist, es auf besonders schöne Weise zu erfüllen. Danach kommt er und fordert dazu auf, das Gebot so zu erfüllen, dass man ihm gerade noch Genüge tut. Und so schafft er Stück für Stück den Freiraum um schließlich zu sagen, dass man eine Übertretung begehen soll.

Wenn nun für jedes einzelne Gebot gilt, dass man durch das Einführen von Erleichterungen einen Raum schafft, in dem das Übertreten eines Verbotes möglich wird, so gilt das umso mehr für das Gebot der Liebe Israels (das Gebot, jeden Juden zu lieben – Anm. d. Über.), da dieses ja die Grundlage aller Gebote ist, wie der Jeruschalmi erklärt3: „Rabbi Akiwa sagte: Liebe deinen Nächsten wie dich, dies ist ein großer Grundsatz der Tora“. Denn wenn man anfängt, bei der Liebe Israels Abstriche zu machen, dann schafft man dadurch einen Raum, in dem – G“tt behüte – es zum Gegenteil dieses Gebotes kommen kann.

3. Zum Thema Liebe Israels erzählt die Gemara4, wie ein Ger (ein unter Juden weilender Fremder – Anm. d. Übers.) zu Schamai kam und ihm sagte „bringe mir die ganze Tora auf einem Bein bei“ und dieser ihm mit dem Maßstab des Baumeisters wegschob. Als er zu Hillel kam, sagte Hillel zu ihm: „was dir verhasst ist, füge deinem Freund nicht zu. Alles weitere ist Auslegung“.

Es stellt sich nun die folgende Frage: Da Hillel sagte, dass dies so sei, so ist dies vollkommen wahr. Wenn dem so ist, warum hat dann Schamai ihn nicht dasselbe geantwortet?

Die Erklärung ist jedoch, dass es bei den Gerechten zwei Arten des G“ttesdienstes gibt. Eine Weise des G“ttesdienstes der Gerechten folgt dem Attribut Gewura (Strenge, Kraft – Anm. d. Übers.) und sein Streben ist das Emporsteigen. Sie sondern sich von der Welt ab und haben nichts mit der physischen Welt gemein. Wie es in Likute Tora erklärt wird5, erfüllen diese Gerechten die Gebote auf spirituelle Weise, so wie Rabbi Schimon Bar Jochai, als er in der Wüste war.

Dies bedeutet, dass diese Art des G“ttesdienstes nichts mit dieser Welt zu tun hat. Sie ist relevant für jene Gerechten, welche sich hier unten ebenso befinden, wie dort oben. Für die Welt aber hat sie keine Bedeutung. So sagt Rabbi Schimon Bar Jochai selber6 „wenn es möglich ist, dass ein Mensch pflügt und säht, wie wird es dann um die Tora bestellt sein usw.?“ Und die Gemara fährt fort – „viele suchten es Rabbi Schimon Bar Jochai gleichzutun, aber vermochten dies nicht“.

So auch das Haus Schamai, dessen G“ttesdienst der Linie der Gewura folgt, wie ja auch der Name Schamai sich von – er bemisst seine Handlungsweisen – ableitet. Alles ist abgemessen und ausgerechnet. In Likute Tora7 wird erklärt, dass dieses G“ttesdienst nur für jene Gerechten ein rechter Weg war, für den Rest der Welt ist er jedoch nicht geeignet. Deshalb wurde die Halacha auch nicht gemäß der Meinung des Hauses Schamai festgelegt, und die Meinung des Hauses Schamai darf nicht einmal anstelle der Meinung des Hauses Hillel gelehrt werden8.

Als daher der Ger zu Schamai kam und ihn aufforderte, ihn die ganze Tora auf einem Bein beizubringen, verhielt sich Schamai gemäß auf strenge Weise, abgetrennt von der Welt. Für die Frage des Ger gab es an Schamais Ort keinen Platz und daher schob er ihn zur Seite. Als dieser jedoch zu Hillel kam9, dessen Namen sich von – in seinem Widerschein leuchtet ein Licht – ableiten lässt und demzufolge auf das Herableiten von Gnade hindeutet, so fand dieser auch einen Ort für ihn und erklärt ihm, dass man durch die Liebe zu allen Juden der gesamten Tora teilhaftig wird.

4. So erzählt auch der Sohar10 von drei Gerechten, von denen jeder in einer Generation lebte, die nicht so war, wie sie sein sollte: Noach, Awraham und Mosche. In der Generation von Noach fand die Flut statt. Er betete nur für sich und die Angehörigen seines Haushalts. An die gesamte Generation dachte er nur insoweit, dass er von der Flut erzählte, die G“tt über die Welt bringen würde, wenn man ihn fragte weshalb er die Arche baut. Aber dies geschah nur, wenn man zu ihm kam. Er, von sich aus, ging nicht zu den Menschen und der Sohar kommentiert dies mit einem schweren Wort.

Awraham hat nicht darauf gewartet, dass man zu ihm kommt, sondern „er rief dort den Namen des Ewigen, G“tt der Welt“11. Er ging zu allen Menschen und machte den Namen G“ttes in der Welt bekannt. Aber seine Arbeit bestand darin, die Menschen in Gerechte zu verwandeln. Für jene, die keine Gerechten waren, hat er nicht gebetet. Zum Zeitpunkt des Urteils über Sdom, bat er G“tt „vielleicht gibt es... Gerechte in der Stadt“, also dass G“tt um der Gerechten willen die Stadt verschonen soll. Als man ihm aber mitteilte, dass es dort keine zehn Gerechten gibt, kehrte er zu seinem Ort zurück12. Weitere Bedenken hatte er nicht.

Das Verhalten von Mosche, dem getreuen Hirten, war ganz anders. Als die Juden sündigten, forderte unser Meister Mosche von G“tt, dass er allen Juden vergibt, also auch den Bösewichtern. Er verhielt sich also anders als Noach, der nur für sich und die Angehörigen seines Haushaltes betete, sondern er ging soweit und sagte13 „Wenn nicht – dann lösche mich aus dem Buch, welches Du geschrieben hast“. Unser Meiste Mosche setzte sich für alle Juden ein. Auch wenn es gemäß der Logik, der Vernunft und dem Verstand keinen Platz gab, um für jemand zu beten, der absichtlich an der Sünde des goldenen Kalbes mitgewirkt hatte, so setzte sich unser Meister Mosche doch vollkommen, mit aller Willensstärke und bis hin zu einer Selbstaufgabe, welche jenseits von Sinn und Verstand ist, für eine solchen Menschen ein. Und nur von diesem Verhalten sagt der heilige Sohar „die Seele der Tora, vollkommen, wie Er es wünscht“. Dies ist der Weg, der zur Übergabe der Tora führt und an diesem Zeichen erkennt man den getreuen Hirten.

Denn das Oberhaupt einer Generation muss sich – ganz besonders nach dem Empfangen der Tora – für jeden einzelnen Juden, ohne jede Ausnahme einsetzen, ob dies nun im Verstand einen Platz hat oder nicht. Es schließt sich nicht mit seinen Söhnen und deren Frauen in eine Arche ein und betet nicht für die übrigen Juden, weil sie usw. seien – und daher wird die Flut nach ihm (nach Noach – Anm. d. Übers.) genannt14.

Ein Hirte Israels setzt sich unter vollkommener, tatsächlicher Selbstaufgabe für eine Generation ein, die sogar die Generation der Wüste sein kann, von denen selbst Rabbi Akiwa sagte, dass sie keinen Anteil an der kommenden Welt haben15, und dass, obwohl er die Juden so sehr liebte, dass er sagte „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – dies ist ein großer Grundsatz der Tora“16.

Unser Meister Mosche jedoch, der getreue Hirte, setzte sich auch für sie ein – und blieb um ihrer Willen in der Wüste, wie es im Midrasch steht17 und wie es heißt „die Gerechtigkeit des Ewigen erfüllte er und seine Satzungen bei Israel“. Unser Meister Mosche blieb in der Wüste um sein Volk mit sich zu nehmen.

5. Demzufolge wird es verständlich, warum unser Meister Mosche gerade für Jehoschua betete „Der Ewige soll dich erretten vor dem Ratschluss der Späher“, für die Anderen aber nicht betete.

Die Chassidus-Lehre bespricht an mehreren Orten die Gründe, aus denen die Späher nicht ins Land Israel einziehen wollten, nämlich, dass sie in der Wüste bleiben wollten, um der materiellen Welt fernzubleiben. Denn dort erhielten sie ihre Nahrung vom Himmel, Wasser aus dem Brunnen Miriams, ja selbst ihre Kleider wurden von den Wolken der Herrlichkeit gereinigt und geglättet18. Daher wollten sie die Wüste nicht verlassen und ins Land Israel einziehen, denn dort hätten sie sich mit Pflügen und Säen – und mit pflügenden und säenden Menschen – beschäftigen müssen.

Nun mag das Leben in der Wüste für sie gut gewesen sein, wie wir ja schon früher besprochen haben, dass es jene gerechte gibt, deren G“ttesdienst gemäß dem Attribut der Strenge erfolgt. Aber das Oberhaupt der Generation und seine Getreuen müssen ihr eigenes Ich beiseite legen und sich zu ihrem Volk gesellen, denn nur so kann die Bestimmung – G“tt eine Wohnstätte in den Tiefen zu errichten – erfüllt werden.

Deshalb machte Kalew nicht gemeinsame Sache mit den Spähern, denn er war unserem Meister Mosche – dem Oberhaupt der Generation – ganz ergeben, so wie es heißt19 „und Kalew brachte das Volk zu Mosche“, denn Mosche verkörpert den Aspekt des „und was sind wir?“, also den Aspekt der völligen Selbstaufgabe, d.h. der Negierung der eigenen Existenz. Der Glanz vom Kalew bestand darin, dass ein anderer Geist bei ihm weilte. Mosche betet gerade für Jehoschua, da er wusste, dass dieser das Oberhaupt der kommenden Generation sein würde, so wie es Eldad und Medad im Lager prophezeit hatten „Mosche wird sterben und Jehoschua wird Israel ins Land bringen“20. Daher betete Mosche für Jehoschua – „der Ewige soll dich erretten vor dem Ratschluss der Späher“ – auch wenn kein Makel an ihnen haftet. Denn das Oberhaupt einer ganzen Generation muss mit dem ganzen Volk verbunden bleiben.

6. Im Midrasch steht, dass unser Meister Mosche den Ewigen folgendes fragte: „Welche Wirkung wird es haben, dass Du den Juden Tora und Gebote gegeben hast? Da sie sich in dieser physischen und materiellen Welt befinden, könnten sie doch all dies vergessen.“ Darauf erwiderte der Ewige: „Ich werde ihnen das Gebot von Zizit geben, welches sie an alle Gebote erinnern wird. Denn der Zahlenwert von Zizit beträgt sechshundert (jeder hebräischer Buchstabe hat einen Zahlenwert: Z=90, J=10, T=400 – Anm. d. Übers.). Zusammen mit den acht Fäden und den fünf Knoten ergibt dies 613. Dies wird sie von selbst an alle Gebote erinnern, so wie geschrieben steht – ihr werdet sie sehen und euch an alle Gebote des Ewigen erinnern21“.

Auf dem ersten Blick stellt sich folgende Frage: wenn es doch die Aufgabe der Zizit ist, uns an die Gebote zu erinnern – wozu braucht man dann einen Tallit? Wenn doch, wie bereits gesagt, die Zizit sind, welche an die 613 Gebote erinnern – dann hätte man doch die Zizit allein nehmen können, wozu also der Tallit?

Die einfache Erklärung ist, dass der Tallit uns umgibt. Anders als die Nahrung, die wir aufnehmen, kann er nicht verinnerlicht werden sondern er umhüllt unseren Körper von außen. Und daraus, dass die Zizit an einem uns nur umgebenden Tallit hängen erschließt sich, dass auch die 613 Gebote, auf die die Zizit hindeuten, ihren Ursprung an einem Ort haben, welcher über dem Verstand hinausgeht.

Wenn man allein die Zizit ohne einen Tallit nimmt, so erfüllt man damit kein Gebot und man wird an kein Gebot erinnert. Nur wenn man die Zizit an einem Tallit befestigt, d.h. wenn man weiß und anerkennt dass die ganze Bedeutung von Tora und Geboten von etwas stammt, was man ganz und gar nicht begreifen kann, dann erfüllt man damit ein Gebot.

7. Am Ende des Abschnitts über die Zizit steht22 „Ich bin der Ewige, euer Herr, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgebracht habe“.

Nun könnte man die Überlegung anstellen, dass der Weg der Tora das Gegenteil des Weges der Welt sei. So ist man gefordert den Schabbat und den Feiertag einzuhalten, und sogar vom Wochentag zum Heiligen hinzuzufügen23, obwohl man doch Konkurrenten und „Competition“ einerseits unter den Gojim (hebr. Völker – Anm. d. Übers.) und andererseits von Juden hat, die nicht den Schabbat halten. Ebenso ist man gefordert früh aufzustehen, zuerst zu beten und danach eine festgelegte Zeit Tora zu lernen – erst danach soll man sich ja den Geschäften zuwenden. Und wenn man dann schon so in die Arbeit vertieft ist, so wird man gefordert mitten am Tag alles liegenzulassen und zum Nachmittagsgebet zu gehen – denn gerade darin besteht ja die besondere Wertschätzung dieses Gebets. Nachher wird man wieder gefordert das Abendgebet zu verrichten und vor dem Schlafengehen das Schma-Jisrael zu sagen. Weiter wird man gehalten, sich vor Diebstahl, Raub, Betrug und dem Eindringen in fremdes Gebiet zu hüten – obwohl all dies doch durchaus übliches Geschäftsgebaren ist (Anm. d. Übers.: auch „kleine“ Vergehen, wie ein Anruf auf Kosten des Arbeitgebers, eine geschönte Aussage zu einem Produkt, ein überhöhter Preis u. dgl. fallen u.U. in diese Kategorien).

Und so stellt man sich die Frage, wie man sich denn überhaupt gemäß der Tora verhalten können soll, wenn doch dafür in der Welt gar kein Platz ist?

Dazu steht am Ende des Abschnittes über die Zizit – dessen Bedeutung ja, wie gesagt, über Sinn und Verstand hinausgeht – dass man, wenn man sich nicht den Einschränkungen von Sinn und Verstand unterwirft und die Gebote darüber hinausgehend erfüllt, dass dann auch der Ewige seine Zuwendung nicht den Grenzen der Natur unterwirft.

„Ich bin der Ewige, euer Herr, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgebracht habe“ – obwohl es ja, wie wir von unseren Meistern seligen Andenkens lernen24 gemäß den Gesetzen der Natur unmöglich war, das auch nur ein einziger Sklave entkommen konnte. Und doch zogen sechshunderttausend Männer aus Ägypten, wozu man noch die Frauen und Kinder hinzurechnen muss.

Doch nicht genug, dass sie Ägypten verließen – sie nahmen sogar noch großen Besitz mit sich, da ja jeder Jude nicht weniger als neunzig Esel hatte, welche Silber und Gold trugen25. Auch viel gemischtes Volk zog mit ihnen aus – auch die Gojim erkannten an, dass all dies ganz und gar über die Grenzen der Natur hinausging.

All dies bedeutet: Wenn sich ein Jude nicht gemäß der Begrenzungen der Natur verhält, dann wird der Ewige, euer Herr ihn aus dem Land Ägypten herausziehen und auch von oben über das natürliche Maß hinaus Gutes erweisen – Kinder, Gesundheit und Lebensunterhalt im Überfluss.