Pessach naht. Bald werde ich mit meiner Familie und meinen Freunden an der Sedertafel sitzen und wir werden uns die gleichen Fragen wie jedes Jahr stellen: Was feiern wir eigentlich? Warum sitzen wir alle hier?
Meine Kinder behaupten, das sei doch ganz klar: Wir sitzen hier, um unsere Freiheit zu feiern. Wir waren Sklaven in Ägypten, jetzt sind wir frei.
Ich freue mich, dass sie sich frei fühlen. Was mich betrifft, fühle ich mich immer noch als Sklave, und Pharao, der König von Ägypten, ist nie gestorben. Ich schufte die ganze Woche lang für ihn.
Ich trage sogar ein Bildnis der heutigen Inkarnation des Pharao in meiner Geldbörse. Darauf eingraviert ist sein Angst einflößender neuer Name: „MasterCard“.
Meine Kinder wollen davon nichts hören. Sie sagen, in der Haggada heißt es, Pharao ließ uns ziehen. Ich kenne jedoch die Haggada etwas besser als sie. Tatsache ist, dass sie, wie jeder andere Text der Tora, voll scheinbarer Widersprüche ist, sodass man gezwungen ist, Fragen zu stellen.
Wir haben gerade Kiddusch gesprochen, bei dem wir Pessach als „Fest unserer Befreiung“ bezeichnet haben. Was sagen wir danach? „Dies ist das Brot der Armen … Jetzt sind wir Sklaven, nächstes Jahr jedoch sind wir freie Menschen.“ Sind wir nun frei oder sind wir Sklaven?
Meine Kinder sagen mir, wir feiern, dass wir früher Sklaven waren und dann befreit wurden. Unser Pech, dass wir uns selbst Probleme schaffen und wieder zu Sklaven werden.
Das Problem, ein Sklave zu sein, ging mir wirklich nah. So suchte ich einen Psychologen auf. Er hörte mir zu und teilte mir dann mit, dass die Kreditkarte kein Pharao sei. Meine unvernünftigen Forderungen an mich selbst seien der Pharao.
Ich sagte ihm, meine einzige Forderung an mich selbst sei, ich sollte kein Sklave sein.
Er meinte, das Wort „sollte“ bedeute, dass ich unvernünftige Forderungen an mich selbst stelle. Das führe zu Stress und Stress sei Sklaverei.
„Was also soll ich tun?“, fragte ich. „Ich will kein Sklave sein.“ Der Psychologe meinte, ich solle gar nichts tun. „Wollen“ sei in Ordnung. „Sollte“ sei schlecht. Es sei unvernünftig zu „sollen“.
Jetzt war ich wirklich durcheinander. Ich entschied, dass ich zur Befreiung keinen Psychologen benötigte. Was ich brauchte, war ein Guru. Ich setzte mich also an den Computer und schrieb an den Guadalajara Rebbe.
Dann kam die Antwort:
„Wir sind alle Gefangene. Die Tatsache unserer Existenz ist unser Verbrechen. Das Universum ist unser Gefängnis. Unser Körper und unsere Person sind unsere Gefängniszelle. Die Schlüssel zur Befreiung liegen fest in den Händen unseres Egos.“
Es folgte eine kurze Notiz: „Siehe Tanja, Kapitel 47.“
Ich meditierte, ich trank Kräutertee und meditierte wieder und dann verstand ich. Die Kreditkarte ist nicht unser Pharao. Auch „ich sollte“ ist es nicht. Es ist weder das Wollen noch das Sollen, es ist das „Ich“.
Also sah ich im Buch Tanja, dem klassischen chassidischen Werk von Rabbi Schneur Zalman von Liadi, Kapitel 47, nach. Dort steht, dass uns G-tt, als er uns die Tora gab, Unendlichkeit gab. Wir sind mit ihm durch die Tora verbunden und dann sind wir frei, weil wir so unendlich und ungebunden sind wie er. „… und es gibt nichts, was den Menschen aufhalten kann, außer sein eigener Wille …“
Hier war wieder dieser Gedanke: Wir sind alle frei, unser Ego aber hält die Schlüssel fest.
Wie bringe ich es dazu, die Schlüssel loszulassen?
Für eine praktische, echte Befreiung brauchte ich den Lubawitscher Rebben.
Hier sein praktischer Rat: „Mach einen Teil deines Lebens zu einer Tat, die dich über deine eigenen Grenzen stößt, indem du Menschen hilfst, die nicht zu deiner Familie oder deinem Bekanntenkreis gehören, indem du etwas tust, das nicht zu deiner Definition von dir selbst passt. Lade jemanden zu deinem Seder ein, mit dem du dich nicht wohlfühlst. Das wird zwar anfangs nicht angenehm sein, du hast dich aber selbst befreit.“
So komme ich dieses Jahr wieder zu meinem Seder. Ich verlasse meine kleine, unwichtige Welt und trete durch die Tür in etwas Unendliches, Zeitloses und Ewiges, weil es mit einem unendlichen, zeitlosen und ewigen G-tt verbunden ist. Ich bin ein Teil von uns und ein Teil von Seiner Tora und daher ein Teil von ihm. Um das zu beweisen, sage ich: „Lasst alle Hilfsbedürftigen eintreten und an unserem Seder teilnehmen – egal wen.“
Ich habe mich befreit. Dieses Jahr sollten wir uns alle befreien. Nicht nur am Sederabend, sondern in jedem einzelnen Moment unseres Lebens.
Dieses Jahr in Jerusalem.
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