„Ihr steht alle hier an diesem Tag vor dem Ewigen, eurem Herrn. Die Häupter eurer Stämme... vom Hacker deines Holzes bis zum Träger deiner Wasser.“

(Dwarim 29:9-10)

1. Es steht im Buch Likute Tora1 – und dies wird auch in den Aufzeichnungen seiner Heiligkeit, meines Lehrers und Schwiegervaters des Admor zum Wochenabschnitt Nizawim 5706 erwähnt – dass der Wochenabschnitt Nizawim immer am Schabbat vor Rosch Haschana verlesen wird. (Nizawim hebr. „die Stehenden“ – Anm. d. Übers.) Einige Male wird er zusammen mit dem Abschnitt Wajelech gelesen, andere Male wird Nizawim getrennt verlesen, immer aber fällt Nizawim auf den Schabbat vor Rosch Haschana.

Der Grund dafür lautet wie folgt:

Jeder Schabbat ist mit den darauf folgenden Wochentagen verbunden und trägt ihren Inhalt bereits in sich. Daher verliest man am Schabbat vor Rosch Haschana „Ihr steht alle hier an diesem Tag“, denn dieses Heute bezieht sich auf Rosch Haschana – den Tag des großen Gerichts.

Wenn „dieser Tag“ kommt, der Tag von Rosch Haschana, dann müsst ihr alle zusammen stehen, alle Seelen müssen sich vor dem Ewigen, euren Herrn einfinden. Dies gilt für all Seelen gleichermaßen – für die Häupter eurer Stämme, wie auch für den Hacker deines Holzes und den Träger deiner Wasser.

Die Hacker deines Holzes, das sind laut Raschi die Kna'anim, welche kamen, um in das jüdische Volk aufgenommen zu werden, so wie dies auch die Giw'onim in den Tagen von Jehoschua taten, die man allein aufgrund eines getanen Schwures aufnahm2. Auch sie sollen zusammen mit den übrigen Juden vor den Ewigen treten, und zwar als Teil des großen Ganzen, als Bestandteil von „Ihr alle“. Alle müssen einig und vereint sein.

„Alle, wie Einer“, das heißt nicht nur, dass einer den anderen duldet, man also nicht darauf achtet, dass der eine ein Oberhaupt ist und der andere ein einfacher Mensch und sich deshalb verträgt. Es bedeutet vielmehr, dass einer den anderen akzeptiert und einer den anderen ergänzt, so wie Kopf und Fuß des menschlichen Körpers gemeinsam eine Einheit bilden und sich gegenseitig ergänzen – denn sowohl Kopf als auch Fuß können ohne den anderen nicht vollkommen sein.

Dies ist der G“ttesdienst, welcher von „diesem Tag“ – Rosch Haschana – gefordert wird. Und um dies erreichen zu können, wird am Schabbat vor Rosch Haschana verlesen „Ihr steht alle hier ... die Häupter eurer Stämme ... vom Hacker deines Holzes bis zum Träger deiner Wasser“. Das Lesen der Tora verleiht die Kraft, damit es tatsächlich so kommen wird.

2. Nachdem geschrieben steht „Ihr steht alle hier ... vom Hacker deines Holzes bis zum Träger deiner Wasser“, steht weiter „dich einzuführen in den Bund des Ewigen, deines Herrn“. Dies heißt, dass die Arbeit von „Ihr steht alle hier ...“ eine Vorbereitung zur Einführung in jenen Bund ist, den G“tt am Tag von Rosch Haschana mit den Juden schließt.

Betrachten wir einmal die Beziehung zwischen zwei getreuen Liebenden in der physischen Welt, dessen Liebe auf einem Grund beruht – sei nun dieser Grund, dass der eine die Vorzüge des anderen schätzt oder weil er will, dass der andere ihn liebt, was für ihn wiederum einen Vorteil bedeutet. Wenn nun in einer solchen Beziehung einer der beiden einen gewissen Makel an sich entdeckt, so muss er fürchten, dass der andere diesen Nachteil bemerkt und so die Liebe von selbst schwächer wird. Wenn es sich gar um einen Nachteil an den wesentlichen Aspekten der Liebe handelt, so kann dies selbst dazu führen, dass die Liebe ganz erlischt oder sich gar in ihr Gegenteil verwandelt.

Um dies zu verhindern, schließen die beiden zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Liebe noch stark ist, einen Bund zwischen sich, dass ihre Liebe ständig andauern wird.

So ist das Schließen eines Bundes ist jenseits von Sinn und Verstand. Man legt den Verstand auf die Seite und man schließt einen Bund, welcher eine Verbindung im Wesen bedeutet. Nichts auf der Welt wird dann diese Liebe schwächen können und sie wird für immer und ewig Bestand haben.

So auch bei der Liebe zwischen G“tt und den Juden. Wenn Rosch Haschana kommt, ist deren Liebe besonders stark, da diesem Tag ja der Monat Elul vorausgeht, dessen Arbeit darin besteht, dass alle Missetaten entfernt werden welche die Liebe verdecken. Daher ist dies der Zeitpunkt, an dem man einen Bund der Liebe schließt. Die Juden verbinden sich mit G“tt auf wesentliche Weise, welche jenseits von Sinn und Verstand ist und daher versteht es sich, dass nichts in der Welt diesen Bund schwächen kann.

Dies im übertragenen Sinn bei G“tt zu bewirken, nämlich dass Er sich mit den Seelen Israels auf einer Eben jenseits von Sinn und Verstand verbinden soll, dies ist das Ergebnis der Arbeit im Sinne von „Ihr alle, wie Einer“. Denn dies bedeutet, dann man sich selber jenseits von Sinn und Verstand „hinweggibt“ (da man ja, dem eigenen Verstand zufolge, ein Oberhaupt, der andere jedoch ein Holzfäller und Wasserträger ist. Was für eine Verbindung sollte also überhaupt hier möglich sein?). So wird auch die Bedeutung von „mit deinen ganzen Vermögen“ in dem Sinne erklärt, dass der Einsatz des ganzen Vermögens – obwohl dies nur dein Vermögen ist3 – in der Lage ist, das Vermögen des Wesenskerns in diese Welt herabzuleiten.

3. Diese Zustand von „Ihr alle, wie Einer“ muss aber wahrhaftig sein, man muss sich dessen bewusst sein, dass dies tatsächlich der Realität entspricht. Auch wenn man meint, selber ein Oberhaupt zu sein und den anderen für einen einfachen Menschen hält, so gilt nicht nur, dass man selber nicht wissen kann, wer wirklich Kopf und wer Fuß ist – da man den anderen in den meisten Fällen geringer einschätzt und er eigentlich höher ist. Darüber hinaus muss man wissen, dass auch wenn man selber der Kopf und der andere der Fuß ist, der Fuß doch einen Vorzug hat, den der Kopf nicht besitzt, dass nämlich gerade durch den Fuß der Kopf seine Vollkommenheit erreicht, wie bereits erklärt wurde.

Somit wird man auch verstehen, warum man gerade die Giw'onim dazu bestimmte, Holzfäller für Heiligtum und Tempel zu sein. Nicht alle Juden waren im Tempel. Nicht alle Juden wohnten in Jerusalem. Dort waren nur Menschen von besonderer Stellung, welche die Vertreter aller Juden waren. Und doch weilten die Giw'onim im Tempel und taten dort Dienst, denn die wahre Vollkommenheit des Kopfes zeigt sich eben gerade am Fuß.

Daher besteht auch eine Verbindung zwischen den beiden Themen – den Giw’onim und dem Schwur, denn ein Schwur ist jenseits von Sinn und Verstand. Er rührt vom Wesen der Seele her4. Und das Wesen der Seele manifestiert sich eben gerade im Fuß.

4. In diesem Zusammenhang sollte ein Jude vor Rosch Haschana über die Bedeutung des Gebets, vor dem Schofarblasen5 nachsinnen. Dort steht „Möge Er uns unser Erbteil wählen, den Stolz Jaakows, welchen Er liebte, Sela“. Wählen, das bedeutet – so und nicht anders. Wenn man die innere Bedeutung der Wahl betrachtet, so sieht man, dass sie sich aus dem Wesenskern herleitet, denn nur dieser – der Wesenskern des Heiligen, gelobt sei Er – steht über allen Abmessungen, steht über allen Abgrenzungen, ganz frei ist.

Wenn man sich nun weiter darin vertieft, so kann man erahnen, wie unermesslich weit entfernt dieser Wesenskern ist6, wie viel unermesslicher als selbst die Kluft zwischen der Welt der Azilut (die höchste der vier uns bekannten Welten, die Welt der Emanation – Anm. d. Übers.) und der Welt des Handelns (hebr. Assia, die physische Welt, derer wir bewusst sind – Anm. d. Übers.), ja selbst größer als die Kluft zwischen der Welt der Azilut und dem Ein-Sof (dem Unendlichen – Anm. d. Übers.). All diese Abstufungen geben bieten keinen Anhaltspunkt für die die Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf. Da dem nun so ist – wie kann man dann überhaupt zum Wesenskern beten, dass er uns erwählen soll?

Wenn man all dies betrachtet und beginnt, seine eigene Größe und Wichtigkeit einzuschätzen, so wird man ganz von selbst nicht dazu kommen, den Nächsten zu betrachten.

Rabbi Hillel Paritscher7 wollte den Alten Rebben kennenlernen, aber jedes Mal, wenn er an in eine Stadt kam, in der sich der Alte Rebbe befand, so traf er ihn nicht weil der Alte Rebbe bereits von dort weggefahren war. Er dachte sich, dass er sich beeilen müsste und als er hörte, dass der Alte Rebbe an einen bestimmten Ort fahren sollte, machte er sich sofort auf den Weg und traf noch vor dem Alten Rebben dort ein. Damit nicht genug – da er sah, dass es immer wieder verschiedene Hinderungsgründe gegeben hatte, welche seinen Wunsch den Alten Rebben zu sehen, vereitelten, so fürchtete er, dass man ihn auch dieses Mal nicht einlassen würde. Listig schlich er sich in die Wohnung, in der der Alte Rebbe wohnen sollte und versteckte sich unterm Bett.

Reb Hillel hatte eine Kaschia (aramäisch für Frage, talmudisches Problem – Anm. d. Übers.) aus dem Traktat Erchin (aramäisch für Werte – Anm. d. Übers.) vorbereitet um sie den Alten Rebben vorzulegen. Als endlich der Alte Rebbe das Zimmer betrat, – noch ehe Reb Hillel aus seinem Versteck unterm Bett hervorkommen konnte – sagte er „Wenn ein junger Mann eine Frage im Traktat Erchin hat, muss er sich zuerst über seinen eigenen Wert klar werden“. Reb Hillel verlor daraufhin das Bewusstsein. Bis man ihn endlich gefunden und aufgeweckt hatte, war der Alte Rebbe bereits wieder fortgefahren.

Es sollte nicht mehr dazu kommen, dass Reb Hillel beim Alten Rebben weilte. Er besuchte den Mittleren Rebben und den Zemach Zedek, aber mit dem Alten Rebben kam er nur dies eine Mal zusammen, und auch damals hatte er keine Gelegenheit, ihn zu sehen.

Die Bedeutung dieser Geschichte für den G“ttesdienst von uns, die wir diese Geschichte gehört habe, lautet wie folgt:

Werte sind etwas, was nicht aufgrund des Verstandes bestimmt werden. So gilt ja auch, dass der Wert eines Menschen (bei der Bestimmung einer gelobten Spende – Anm. d. Übers.) gemäß seiner Lebensjahre, nicht aber gemäß seiner Begabungen erfolgt8. Alle Menschen im selben Lebensjahr haben demnach denselben Wert. Auf dem ersten Blick könnte man hier folgende Frage stellen: Ich habe mich doch mein ganzes Leben mit Tora und G“ttesdienst beschäftigt, etwas, was G“tt und die obere Versammlung (Engel und andere spirituelle Wesen – Anm. d. Übers.) zufrieden stellt. Dem Verstand gemäß, ist dies doch etwas, was in eine Schätzung mit einbezogen werden muss, da ja meine Jahre einen größeren Wert haben, als die Jahre eines Menschen, der sie mit Nichtstun verbrachte „... und es wäre für ihn besser, wenn er nicht erschaffen worden wäre“. Wie kann es dann aber sein, dass beide Jahre denselben Wert haben?

Auf diese Frage antwortet man: Bevor man eine Frage über den Wert eines Menschen stellt, muss man sich zuerst (wirklich) selber einschätzen. Fragen über den Wert des Anderen werden dadurch von allein verschwinden.