Zur Zeit des Tempels erreichten die Festlichkeiten von Sukkot ihren Höhepunkt in der grenzenlosen Freude, welche die Feier des Wasserschöpfens begleitete. Das ganze Jahr hindurch gab es, zusammen mit den vielen Opfern auf dem Altar, an sich auch ein Ausgießen von Wein. Zu Sukkot hingegen gab es außer dem normalen Trankopfer von Wein das einmalige Ereignis des Ausgießens von Wasser. Sobald dies geschah, brachen die im Tempelvorhof versammelten Menschenmassen in einen gewaltigen Jubel aus.

Diese Freudenfeier dauerte drei Tage lang, und unsere Weisen haben dazu bemerkt (Talmud, Sukka 51a und b): "Wer die Freude des Wasserschöpffestes nicht gesehen hat, der hat niemals im Leben eine (wahre) Freude gesehen."

Die Frage ergibt sich hier, warum die Weisen sich dabei einer negativen Ausdrucksweise bedienen, nämlich: "... hat niemals eine (wahre) Freude gesehen." Warum wird nicht einfach – umgekehrt – gesagt, dass die Freude beim Wasserschöpfen die größtmögliche war?

Die Antwort ist, dass die Weisen ihre Worte stets sehr sorgfältig wählen; und so auch hier. Sie erzählen uns da nicht einfach etwas, sondern sie vermitteln eine wertvolle Lehre, und zwar diese: Wer an der Freude des Wasserschöpfens nicht teilgehabt hat, mag sich wohl einbilden, er habe schon bei anderen Gelegenheiten eine große Freude erlebt; und doch begeht er damit einen Irrtum. Was er früher mitgemacht hat, war etwas Oberflächliches; denn nachdem er niemals beim Wasserschöpfen dabei war, ist er einfach unfähig, zu wissen, was wahre Freude ist. Das ist die eigentliche Bedeutung dieser scheinbar ins Negative verweisenden Aussage der Weisen.

Demnach: Was ist das Wesen von Simcha, von wahrer Freude? – Es ist eine direkte Begleiterscheinung dieser unverfälschten Simcha, dass man all seine Grenzen und Beschränkungen durchbricht, dass man all seine Hemmungen los wird. Wenn der einzige Sohn sich verheiratet, dann mag ein normalerweise zurückhaltender und durchaus nicht redseliger Vater sich plötzlich als ein wortgewandter Redner entpuppen, oder ein Geizhals kann im Augenblick dieser seiner höchsten Ergötzung zu einem gebefreudigen Spender werden. Doch der Grund für ein so ekstatisches Verhalten muss auch dementsprechend groß sein, weil doch jede Wirkung in einer augenscheinlichen Beziehung zu ihrer Ursache steht.

Wenn daher jemand einen nur auf vernünftiger Überlegung beruhenden Grund zur Fröhlichkeit hat, so ist diese doch in ihrem Ausmaße durch das Ausmaß eben dieser vernünftigen Überlegung begrenzt! Wenn er aber ein Geschenk oder eine Belohnung erhält, die seine "wildesten Träume übersteigt" (etwas, das er nicht voraussehen konnte), wenn also die Ursache seiner Gemütsbewegung den bloßen Normen des Verstandes nicht mehr entspricht, dann ist die resultierende Freude genauso grenzenlos.

Zurückkommend auf das Wasserschöpfen kann man all dies durch den zwischen Wein und Wasser bestehenden Unterschied illustrieren. Der Wein hat ein "Bouquet", einen Geschmack; das Wasser als solches hat dies nicht. Beide haben ihr Gegenstück in der Sphäre des Geistigen. Wenn man G-tt nach den Maßstäben von Vernunft, Überlegung und Logik dient, dann wird ein solcher Dienst "Wein" genannt; denn man "kostet" (sozusagen) den "Geschmack" oder den "Grund" für die Ausführung der Mizwa. Ein Dienst jedoch, der nur auf "Kabbalat Ol", auf reiner Unterwürfigkeit unter G-tt beruht, wird "Wasser" genannt; denn da kann man keine "Würze" einer Rationalisierung mehr schmecken.

Somit ist tatsächlich klar: "Wer die Freude des Wasserschöpfens nicht gesehen hat, hat niemals im Leben eine (wahre) Freude gesehen". Denn hier symbolisiert das Ausgießen von Wasser – im Gegensatz zum Wein – den Begriff von "Kabbalat Ol", fraglose Unterwürfigkeit statt Rationalisierung nach den Prinzipien einer (begrenzten) Vernunft.