Die Purim–Geschichte, das Buch Esther, gibt Einblicke in unser „jüdisches Problem“.

Zur Zeit Esther’s lebten die Juden in 127 Provinzen und Ländern und waren zweifellos sehr unterschiedlich in ihren Gebräuchen, ihrer Kleidung und Sprache, so wie heutzutage auch. Ihr Heimatland lag brach. Obwohl es auch Juden gab, die sich nicht öffentlich zu ihrem Judentum bekannten, begriff der größte Judenfeind, Haman, die grundlegenden Qualitäten der Juden, die sie alle zu einem Volk machten, indem er erkannte: „Ihre Gesetze sind anders als die der anderen Völker“ (Esther 3:8).

Grund genug für Haman, „alle Juden, alte und junge, Kinder und Frauen” vernichten zu wollen. Ob Tora- und Mizwa-treue Juden, oder Juden mit schwacher Bindung zu ihrem Volk, die sich z.B. auch assimiliert hätten, - keiner konnte sich vor Hamann’s Einstufung retten, diesem „alleinigen Volk“ anzugehören. Alle Juden waren gleichermaßen von Haman’s grausamem Edikt betroffen.

Zu allen Zeiten gab es Hamans, aber wir haben sie G-tt-sei-Dank alle überlebt. Worin besteht aber das Geheimnis unseres Überlebens?

Die Antwort soll durch die folgende Darstellung deutlich werden: Wenn ein Wissenschaftler die Gesetze eines Phänomens oder die wichtigsten Eigenschaften eines natürlichen Elements erforschen möchte, muss er eine Reihe Experimente unter den verschiedensten Bedingungen durchführen. Nur so lassen sich jene Eigenschaften entdecken, die unter allen Bedingungen gleich sind. Kein wissenschaftliches Gesetz kann durch einige wenige Experimente oder durch Experimente unter immer gleichen oder ähnlichen Bedingungen abgeleitet werden. Ihre Resultate wären weder schlüssig, noch würden sie anerkannt.

Dieses Prinzip sollte auch auf die Juden angewendet werden. Das jüdische Volk ist eines der ältesten Völker der Welt. Seine Geschichte fängt vor ungefähr 3300 Jahren mit der Offenbarung am Berg Sinai an. Über die Jahrhunderte hinweg hat unser Volk unter sehr unterschiedlichen temporären und lokalen Bedingungen gelebt. Wenn wir die wichtigsten Elemente unserer Existenz und einmaligen Kraft aufdecken, erkennen wir, dass es weder auf die körperlichen noch geistigen Kräfte, weder auf die Sprache noch die Verhaltensweisen oder Gebräuche unseres Volkes zurück zu führen ist. Nicht einmal seine rassische Reinheit ist die Ursache, denn seit dem frühen Mittelalter bis in die Neuzeit sind ganze Völkergruppen und Stämme zum Judentum übergetreten und Teil des jüdischen Volkes geworden.

Das einzige, das unser weitverbreitet lebendes Volk über Zeit und Raum verbunden hat, waren Tora und Mizwot. Der jüdische Lebensstil blieb in all den Jahrhunderten an jedem Ort im Prinzip gleich. Wir können deshalb zweifelsfrei den Schluss ziehen, dass es Tora und Mizwot sind, die uns - trotz Massaker, Pogromen und ideologischen Kämpfen fremder Kulturen - unzerstörbar gemacht haben.

Durch das Purimfest lernen wir, dass wir uns nicht durch Anpassung vor den Haman’s und Hitler’s schützen können. Kein Jude kann seine Bindung an sein Volk durch solch einen ‚Ausweg’ lösen.

Im Gegenteil! Unsere Erlösung und unsere Existenz beruht gerade auf der Tatsache, die da heißt: „Ihre Gesetze sind anders als die aller anderen Völker“.

An Purim werden wir daran erinnert, dass unsere Kraft aus unserem unbedingten Festhalten an unserer althergebrachten religiösen Tradition resultiert. Das betrifft sowohl das ganze Volk, wie jeden einzelnen Jude persönlich. Nichts darf dem Kern unserer Existenz widersprechen. Nur so können wir uns körperlich und geistig kräftigen, - können wir ein harmonisches, gesundes und frohes Leben erlangen.

Anpassung ist nicht die Antwort

Der menschliche Körper hat bestimmte Funktionen, an denen alle Körperorgane gemeinsam teilhaben; aber es gibt auch Organe für ganz spezifische Funktionen. Um seine Funktionen auszuführen, muss sich das betreffende Organ besonders anstrengen, während die allgemeinen Funktionen viel leichter ausgeführt werden können.

Was würde aber passieren, wenn ein bestimmtes Organ seine Individualität und damit seine funktionale Besonderheit aufgäbe, um seine gesamte Energie der allgemeinen Aufgabe zu widmen? Möglicherweise - so scheint es - blieben dem Organ einige Anstrengungen erspart, so dass es dadurch einen größeren Teil allgemeiner Aufgaben übernehmen könnte.

Aber bald käme sowohl für das einzelne Organ als auch für den gesamten Körper die Katastrophe: Das Organ würde seine Identität verlieren! Sobald es nämlich nicht mehr seine Funktion ausübt, setzt ein Schwund, eine Atrophie, ein. Damit nützt dieses Organ auch den übrigen Funktionen nichts mehr. Der gesamte Körper muss nunmehr ohne diese bestimmte Funktion und später ohne das gesamte Organ auskommen, was unweigerlich zum Tod des Menschen führt.

Diese Analogie ist auf den Einzelnen in der Gesellschaft, auf eine Minderheit im Staat, auf ein Volk innerhalb eines Völkerbundes übertragbar, und lässt sich auf das jüdische Volk, bzw. jeden einzelnen Juden beziehen.

Das jüdische Volk stellt eine Minderheit unter den Völkern der Welt dar, wenn es heißt: „Denn ihr seid das geringste aller Völker.“ Jeder einzelne Jude ist in seiner Umgebung in der Minderheit. Selbst innerhalb seines jüdischen Volkes kann sich ein Jude als Fremdling fühlen, wenn nur er als einziger unter allen Juden Tora-treu lebt. Dann stellt dieser Jude nämlich auch eine Minderheit innerhalb der Minderheit dar.

Was ist die besondere Aufgabe unseres Volkes und jedes einzelnen Juden?

Es ist natürlich einfacher, die Aufgabe eines bestimmten Körperorgans zu bestimmen, als die Funktion eines Volkes im Völkerbund. Für das jüdische Volk, mit seinen unterschiedlichen Erfahrungen und seiner langen Geschichte, ist es jedoch nicht schwer, diese Funktion zu determinieren. Durch Ausschluss können wir einfach bestimmen, welche zentralen Faktoren seine Existenz und sein Bestehen ermöglicht haben.

Betrachten wir vorurteilslos die lange Geschichte unseres Volkes, so erkennen wir sofort, dass unser Überleben weder durch Reichtum noch durch physische Kraft gesichert wurde. Selbst zu Zeiten des vereinigten Königreiches unter König Solomon war der jüdische Staat unbedeutend im Vergleich mit den damaligen Weltmächten Ägypten, Assyrien und Babylonien. Weder der Staat noch das Heimatland haben unser Überleben garantiert, zumal wir den überwiegenden Teil unserer langen Geschichte ohne unabhängigen Staat in der Diaspora verbrachten. Wir identifizierten uns auch nicht über die Sprache. Vielmehr wurde schon zu biblischen Zeiten die heilige Sprache durch das Aramäische ersetzt. Teile der Heiligen Schrift, der fast vollständige Babylonische Talmud und die Sohar sind auf aramäisch geschrieben. Da sich die Kulturen über die Zeiten hinweg drastisch geändert haben, hat sich unser Volk auch nicht durch eine einheitliche, z.B. säkulare Kultur erhalten.

Der einzige gemeinsame Faktor, der unter allen Umständen alle Zeiten in allen Ländern überdauerte, war die Präsens von Tora und Mizwot, den die Juden in ihrem täglichen Leben praktizierten.

Es gab natürlich immer wieder anders denkende Gruppen, die sich vom wahren Judentum entfernt haben, wie die götzendienenden Bewegungen während der ersten Tempelzeit, die Hellenisten in der zweiten Tempelzeit, alexandrinische Anpasser, die Karaíter und andere. Sie sind alle verschwunden, - diese Gruppierungen entwurzelten sich selbst. Paradoxerweise wurden die oft zu den schlimmsten Feinden und Verfolgern des eigenen jüdischen Volkes.

Vorurteilsfrei müssen wir Tora und Mizwot als die Kernaufgabe und –funktion unseres Volkes anerkennen, - sei es in Bezug auf den einzelnen Juden oder die Rolle des jüdischen Volkes gegenüber der Menschheit insgesamt.

Aus diesen Erkenntnissen resultiert als logische Schlussfolgerung, dass wir Juden durch Imitation anderer Völker nichts anderes „erreichen“, als die Existenz unseres Volkes in Gefahr zu bringen. Durch ein „Dazu-gehören-Wollen“ werden wir nicht ihre Freundschaft gewinnen, sondern ihre Feindschaft gegenüber dem jüdischen Volk nur verstärken. Gleichermaßen unterminieren solche Juden, die nicht-religiösen Gruppen gegenüber Konzessionen in Bezug auf Tora und Mizwot machen, nicht nur ihre eigene Existenz und die unseres Volkes – denn die Tora und Mizwot sind unser Leben. Assimilationsversuche unterminieren auch ihr eigenes Ziel, denn solch ein Verhalten kann nur Spott und Hass erzeugen. Ein kleines Zugeständnis heute führt morgen zu einer großen Konzession. Seiner Verantwortung gegenüber G-tt nicht nachzukommen, bedeutet eine Vernachlässigung seiner Verantwortung gegenüber den Menschen, - und wir wissen nicht, wo diese Verwässerung der Werte aufhört.

Wenn wir uns ehrlich selbst betrachten, erkennen wir, dass der Kernfaktor unserer Existenz und unseres Überlebens unsere Praktizierung der Tora und Mizwot darstellt. Keiner sollte sich selbst täuschen und den einfacheren Weg gehen, oder sich durch scheinbare Vorteile bestechen lassen.

Über das Geheimnis der Existenz unseres Volkes steht geschrieben: “Ein Volk, das alleine lebt“ (Numeri 23:9). Das bezieht sich auf jeden einzelnen von uns, ob Mann oder Frau, die wir an den Einen G-tt glauben und in Einklang mit der einzigen Tora leben, die ewig und unveränderbar ist. Dieses „Anderssein“ und diese Unabhängigkeit im Denken und Handeln sind nicht unsere Schwächen, sondern unsere Stärke. Nur so können wir unsere von unserem Schöpfer erhaltene Aufgabe erfüllen, als „Ein Königreich der Priester und ein heiliges Volk“ auch eine Segula (G-ttes Schatz) für die Menschheit zu sein.

Der fünfte Sohn

Das Pessachfest beginnt mit dem zentralen Thema „Wenn dein Sohn dich fragt“. Die Haggada basiert auf dem Toragebot „Dann sollst du deinem Sohn sagen“.

Die verschiedenen Arten und Weisen, Fragen zu stellen und Antworten zu geben, wie sie in der Haggada beschrieben werden, richten sich nach der Kategorie des Sohnes, - also ob er „weise“, „böse“, „einfach“ oder „der, der nicht weiß, wie man Fragen stellt“ gehört.

Obwohl die „Vier Söhne“ unterschiedlich auf den Pessach-Seder reagieren, haben sie dennoch eine Gemeinsamkeit: Sie sind alle anwesend. Selbst der sogenannte „böse“ Sohn ist da und, obwohl er rebellisch ist, ist er dennoch am jüdischen Leben interessiert. So können wir immer noch hoffen, dass eines Tages der „böse“ Sohn weise und alle jüdischen Kinder bei dem Seder gewissenhafte Juden werden, die Tora und Mizwot halten.

Leider gibt es in unserer verwirrten Zeit noch ein anderes jüdisches Kind: Das Kind, das nicht beim Sedertisch anwesend ist. Es hat kein Interesse an Tora und Mizwot, Gesetzen und Traditionen. Es ist ihm gar nicht bewusst, dass es eine Pessach Seder, den Auszug aus Ägypten und die Offenbarung am Berg Sinai gibt.

Das ist eine grosse Herausforderung, mit der wir uns lange vor dem Pessachfest und der Sedernacht beschäftigen sollten, denn kein jüdisches Kind sollte vergessen oder aufgegeben werden. Es bedarf unserer Anstrengungen, dieses ‚verlorene’ Kind zu retten, indem wir an den Sedertisch bringen. Dabei sollten wir keine Furcht vor eventueller Erfolglosigkeit entwickeln. Wichtig ist nur, dass wir uns mit viel Mit- und Verantwortungsgefühl diesem Unterfangen widmen.

Eine unerwünschte Situation lässt sich nur beheben, wenn wir das Problem an der Wurzel anpacken, - so wie in der folgenden Situation beschrieben:

Die ‚verlorene Generation’ wurde leider durch das Verhalten von Immigranten herangezogen, die sich in einer neuen und fremden Umgebung befanden. Sie sahen sich als kleine Minderheit. Und dieses Minderwertigkeitsgefühl verstärkte sich durch die Schwierigkeiten, die bei jedem Umzug in einen völlig neuen Kulturkreis unvermeidlich sind. Leider zogen manche Eltern daraus die voreilige Konsequenz, dass sich ihre Übergangsprobleme umso schneller lösen, je stärker sie sich der neuen Umgebung anpassen würden. So verleugneten Eltern oft das Erbe ihrer Vorväter und den jüdischen Lebensstil vor ihren Kindern. Familien entwickelten die Vorstellung, dass Tora und Mizwot nicht in ihre neue Umgebung hineinpassen. Sie konstruierten Probleme, die ein jüdischer Lebensstil angeblich mit sich brächte. Plötzlich erachteten sie ihre nicht-jüdische Umgebung als besser und attraktiver.

Die Eltern hofften, dass sie durch solch eine Einstellung die Existenz ihrer Kinder sichern könnten. Was für eine Existenz ist es aber, wenn alles Geistige und Heilige durch Materielles ausgetauscht, - wenn die Seele den Annehmlichkeiten des Körpers geopfert wird?

Ihre „Flucht in die Freiheit“ verwandelte sich bald in eine „Flucht in die Sklaverei“, indem sie krampfhaft ihre nicht-jüdische Umgebung zu imitieren versuchten. Die Nicht-Juden sahen es mit Belustigung und versuchten gar nicht erst, diese Juden ernst zu nehmen. So wurden die Immigranten, von denjenigen, deren Respekt und Wohlwollen sie so verzweifelt erheischen wollten, lächerlich gemacht und weggestoßen.

Diesen falschen Ansatz zur Behebung des Minderheitenproblems durch Selbstauflösung haben sich nicht nur Einzelpersonen, sondern auch bestimmte Gruppen zu Eigen gemacht. Diese Juden haben entweder offen oder verdeckt versucht, die G-ttliche Tora, die unserem Volk ihren besonderen Charakter verleiht, zu unterminieren. Die so Denkenden sind alle durch dieselbe Ideologie geprägt, die da heißt: „Wir wollen wie die anderen Völker sein und, wie die Familien der Länder, Holz und Stein dienen“ (Esekiel 20:32).

Die Konsequenz dieses irregeleiteten Ansatzes war, dass Tausende Juden von ihrem Lebenselixier, dem wahren Glauben, entfremdet wurden. Ihre Kinder wuchsen ohne geistigen Halt und Inhalt auf und gehörten sehr bald nicht mehr zu den “Vier Söhnen“ der Haggada, ja noch nicht einmal zur Kategorie des „Bösen Sohnes“.

Heutzutage gibt es viele Juden der dritten und vierten Immigrantengeneration, die zu der halachischen Gruppe des Kindes, das in jungen Jahren entführt wurde (Tinok Schenischba) gehören, da sie keine wahre jüdische Bildung haben. Jetzt besteht die große Gefahr, dass sie durch Assimilierung und Heirat mit Nicht-Juden gänzlich ihre jüdische Identität verlieren. Denken wir deshalb immer an die Folgen unseres Tuns!

Die Lösung

Das Pessach-Fest, das uns an den Auszug aus Ägypten erinnert, beweißt, dass wir unser Überleben, unsere Erlösung und Freiheit nicht durch Imitation unserer Umgebung, sondern nur durch traditionsbewusstes Handeln erlangen können.

Unsere Vorfahren in Ägypten waren eine kleine Minderheit und lebten unter sehr schwierigen Bedingungen. Und dennoch behielten sie ihre Identität mit Würde und Stolz bei. Sie hielten an ihrem Lebensstil, ihren Traditionen und ihrer Einzigartigkeit fest, wodurch ihre Existenz und ihre Befreiung aus körperlicher und geistiger Sklaverei gesichert wurde.

So ist es eine der lebenswichtigsten Aufgaben unserer Zeit, allen Juden, - ob sie als Jugendliche noch zu wenig Tora-Wissen besitzen, oder es als Ältere immer ablehnten, - jetzt ein besseres Verständnis der wahren jüdischen Werte und Tora-treuer Jiddischkeit nahezubringen. Sie brauchen die Präsens von Tora und Mizwot, und kein „angepasst verwässertes“ Judentum. Mit wachsendem Verständnis werden sie einsehen, dass nur wahre Jiddischkeit die Existenz jedes einzelnen Juden zu jeder Zeit, an jedem Ort und unter jedweden Umständen garantieren kann.

Kein Jude sollte als hoffnungsloser Fall betrachtet werden. Mit Nächstenliebe können sogar Mitglieder der ‚verlorenen Generation’ zur Liebe G-ttes (Ahawat-HaSchem) und zur Liebe der Tora (Ahawat-HaTora) ermutigt werden. Das ist der Weg, um nicht nur wieder an der Gemeinschaft der „Vier Söhne“ teilzunehmen, sondern sogar zur Kategorie des „weisen“ Sohnes aufzusteigen.