XI. Zwischen Rosch haSchana und Jom Kippur liegen sieben Tage. Daraus folgt, dass die „Aseret Jemej Teschuwa – Zehn Tage der Teschuwa“ auch die beiden Tage von Rosch haSchana und den Tag von Jom Kippur umfassen.1

Die Tatsache, dass alle zehn Tage mit einem Begriff – Aseret Jemej Teschuwa – bezeichnet werden, zeigt deutlich, dass sie eine Einheit bilden, die mit Rosch haSchana beginnt und mit Jom Kippur endet. Daraus folgt, dass die allererste Minute von Rosch haSchana bereits eine Vorbereitung auf Jom Kippur ist.

Die einzigartige Mizwa von Rosch haSchana ist das Blasen des Schofar.2 Der einzigartige Aspekt von Jom Kippur ist der Dienst des Kohen Gadol (Hohepriester). Das ganze Jahr über verrichteten auch andere Kohanim den Dienst [des Bet haMikdasch], aber an Jom Kippur musste der Dienst ausschließlich vom Kohen Gadol verrichtet werden.3

Der Dienst des Kohen Gadol hatte zwei Komponenten. Den einen vollzog er in goldenen Gewändern. (Diese Gewänder bestanden auch aus anderen Materialien, aber sie werden als „goldene Gewänder“ bezeichnet.) Den anderen vollzog er in weißen Gewändern aus reinem Leinen.4

Das Bet haMikdasch war in drei Abschnitte unterteilt: den Asara (Tempelhof), den Hechal (Tempelgebäude: auch als Kodesch – Heiligtum – bekannt) und den Kodesch haKodaschim (Allerheiligstes).5 Für die Dienste in der Asara und dem Hechal trug der Kohen Gadol die goldenen Gewänder und für die Dienste im Kodesch haKodaschim die weißen Gewänder.

XII. Die Zerstörung des Bet haMikdasch bezog sich nur auf seine physische Struktur, auf die Steine, das Gold und das Silber.6 Die geistige Realität des Bet haMikdasch, die in jedem Juden zu finden ist, das Bet haMikdasch in der Seele eines jeden Juden, existiert weiter und bleibt für immer unversehrt.7 Selbst ein Jude kann es, G-tt bewahre, nicht zerstören, und wie viel weniger ein Nichtjude.

(Der Rebbe, mein Schwiegervater, sagte folgendes:8 „Nur unsere Körper wurden ins Exil und in die Knechtschaft der Völker gebracht; unsere Seelen aber wurden nicht ins Exil verbannt und nicht in die Knechtschaft der Völker ausgeliefert.“)

Die verschiedenen Zeiten und Perioden des Jahres beziehen sich auch auf das geistige Bet haMikdasch in jedem Juden. An Jom Kippur muss jeder Jude als Kohen Gadol seines individuellen Bet haMikdasch alle Dienste selbst verrichten und darf sich auf niemanden sonst verlassen. So muss er die Dienste im Zusammenhang mit dem Kodesch haKodaschim in weißen Gewändern und die anderen Dienste in goldenen Gewändern verrichten.

XIII. Die Kohanim mussten mit schönen und feinen Gewändern bekleidet sein, „mit heiligen Gewändern zur Ehre und zur Schönheit“9, und der Dienst an Jom Kippur sollte in goldenen Gewändern stattfinden (außer dem Dienst im Kodesch haKodaschim). Rambam erklärt dies so,10 dass man für heilige Angelegenheiten das Beste und Schönste verwenden muss. Gold wird sehr geschätzt und beeindruckt die Menschen, deshalb musste der Dienst im Bet haMikdasch, insbesondere an Jom Kippur, in goldenen Gewändern stattfinden.

Dies wirft die Frage auf, warum der Dienst im Kodesch haKodaschim in weißen [Leinen-]Gewändern stattfinden muss. Schließlich ist der Kodesch haKodaschim der heiligste Ort, also sollten wir erwarten, dass der Dienst dort mehr als anderswo in goldenen Gewändern stattfindet!

Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass jeder dem Allmächtigen nach Maßgabe seiner persönlichen Fähigkeiten dienen muss.

Wenn eine wohlhabende Person um Zedaka gebeten wird, kann sie nicht damit argumentieren, dass sie sich durch Tora, Gebet, das Studium von Chassidut und Talmud davon befreien wird. Er muss bedenken, dass das Bet haMikdasch goldene Gewänder erforderte.

Andererseits muss man auch erkennen, dass man seinen Verpflichtungen nicht nur durch die Unterstützung von Jeschiwot und dergleichen – also durch „goldene Gewänder“ – nachkommen kann. Man muss auch weiße Gewänder haben, reine Gewänder, d. h. eine Spiritualität, die rein und vom Physischen und Körperlichen befreit ist.

Alles muss zu seiner Zeit und seinem Ort passen. Für die Dienste, die jenseits (außerhalb) des Kodesch haKodaschim liegen, muss man goldene Gewänder verwenden, d. h., für alle Angelegenheiten des Bet haMikdasch müssen goldene Gewänder getragen werden.

(Der Midrasch bemerkt: „Die Welt war nicht würdig, Gold zu gebrauchen, und es wurde nur um des Bet haMikdasch willen geschaffen.“11 Der Hauptgrund für die Erschaffung des Goldes war um des Bet haMikdasch willen, und deshalb ist es auch für den Rest der Welt verfügbar. Nun versteht sicher jeder, dass man das Primäre nicht in etwas Sekundäres und das Sekundäre nicht in das Primäre verwandeln soll).

Was jedoch den Kodesch haKodaschim, das „Allerheiligste“ der Seele eines jeden, betrifft, so darf man kein Gold hineinbringen. Das gilt für die Wohlhabenden genauso wie für alle anderen. Die Dienste des Kodesch haKodaschim müssen in weißen Gewändern abgehalten werden.

XIV. Dies ist also das Konzept der Aseret Jemej Teschuwa, die mit dem Schofar an Rosch haSchana beginnen und mit dem Dienst des Kohen Gadol an Jom Kippur enden.

Zu Beginn des Aseret Jemej Teschuwa wird ein Schofar genommen und geblasen. Ein Schofar ist das Horn eines Tieres. Die Töne, die beim Blasen erzeugt werden, sind keine „musikalischen Töne“, sondern einfache Laute12Tekia, Schewarim und Terua. Denn wenn ein Jude vor G-tt steht, gibt es keine Hilfsmittel. Seine Verbindung zu G-tt ist ein einfacher Ruf aus dem Herzen. Er ruft aus der Tiefe seines Herzens, aus seinem Innersten, dass er G-ttes Kind ist und dass G-tt sein Vater ist, und bittet darum, dass der Vater ihm ein gutes und süßes Jahr gewährt.

Die Aseret Jemej Teschuwa enden mit dem Dienst des Kohen Gadol mit seinen beiden oben erwähnten Komponenten. Dies bedeutet eine bewusste Entscheidung, G-tt sowohl mit goldenen als auch mit weißen Gewändern zu dienen:

Wenn man von G-tt mit Geld und einer jüdischen Seele gesegnet ist, erkennt man, dass man sich nicht hinter „weißen Gewändern“ verstecken kann, den reinen Kleidern, die leicht von irgendetwas befleckt werden können, wenn man sich mit Angelegenheiten jenseits (außerhalb) der Kodesch haKodaschim beschäftigen muss. Wenn er also um eine Spende gebeten wird, wird er nicht vorschlagen, sich an jemand anderen zu wenden, weil er selbst heilig und rein ist. Er weiß, dass das Bet haMikdasch, die Jeschiwa, die Bet haKnesset (Synagoge) oder das Bet haMidrasch (Lehrhaus) – Gold brauchen, und deshalb muss er Gold spenden.

In Bezug auf den Kodesch haKodaschim ist er jedoch derselbe wie alle anderen. Er wird sich nicht in goldenen Gewändern bewegen, sondern in weißen, reinen Gewändern, d. h. rein von allem Physischen und Körperlichen. Er weiß, dass im Kodesch haKodaschim nichts war außer G-tt, der Tora (der heiligen Lade mit den Luchot) und dem Kohen Gadol.13 Auch die Lechem haPanim (Schaubrote), die heilige Brote waren, waren nicht im Kodesch haKodaschim.

XV. All dies bietet eine Lektion für jeden Juden.

Der Beginn des Lebens, der Beginn der Awoda und der Beginn des Jahres, muss mit einem einfachen Ruf zu G-tt erfolgen, der die Vernunft übersteigt. Darauf folgen die verschiedenen Dienste im Bet haMikdasch – der auch heute noch völlig intakt ist – in goldenen Gewändern und in weißen Gewändern.

Wenn man diese Prozedur befolgt, hat man das Materielle mit dem Geistigen verbunden, so wie es beim Kohen Gadol war. Der Kohen Gadol hat nicht die goldenen Gewänder vorgezogen und dann später die weißen Gewänder genommen, sondern er hat sie immer wieder gewechselt: Erst trug er die goldenen Gewänder und wechselte dann zu den weißen, dann wieder die goldenen, dann die weißen und dann noch einmal die goldenen.14 Für Juden gibt es keine Zweiteilung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen.

XVI. An Jom Kippur muss ein Jude darüber nachdenken und sich darauf vorbereiten, den Kodesch haKodaschim in sich selbst zu betreten.

Was ist die Bedeutung von Kodesch haKodaschim?

Im Kodesch haKodaschim befand sich nur die Heilige Lade, die die Luchot enthielt.15 Das bedeutet Folgendes:

Der Kodesch haKodaschim ist der Ort der Luchot, der eingravierten Tora.16 Dies bezieht sich auch auf den Kodesch haKodaschim in jedem Juden.

Das Band, das einen Juden an die Tora bindet, die „Torat Chajim – eine Tora des Lebens“17 ist, ist ein Band nach der Art der Gravur.18

XVII. Wenn ein Jude an Jom Kippur den Kodesch haKodaschim betreten will, wird er von einer Frage geplagt: „Wie kann ich den Kodesch haKodaschim betreten, wo mir doch alle ‚Verzierungen‘ fehlen?“ So wird ihm gesagt:

Um den Kodesch haKodaschim zu betreten, braucht man keine goldenen Gewänder, keinen Schmuck oder besondere Farben. Der Kodesch haKodaschim erfordert reine, weiße Gewänder, ein reines und geläutertes Herz und einen reinen und geläuterten Kopf. Jeder Jude besitzt dies nach dem Untertauchen [in einer Mikwe] am Vortag von Jom Kippur, einem Untertauchen, bei dem das abgewaschen wird, was weder gut noch angemessen ist.19

XVIII. Der Kohen Gadol sprach, nachdem er in den goldenen und weißen Gewändern gedient hatte, ein kurzes Gebet.20 In seinen wenigen Worten betete er um ein gutes Jahr – auch im physischen Sinne – für sich, seinen Stamm und für ganz Israel in aller Welt. So ist es auch bei jedem Juden: Seine Awoda im Kodesch haKodaschim in sich selbst wird – mit ein paar wenigen Worten in bestimmten Momenten – Glück für alle Tage des ganzen Jahres hervorbringen.

Das Gebet des Kohen Gadol geschah im Namen aller Juden. So ist es auch mit dem Gebet eines jeden Juden an Jom Kippur. „Israeliten bürgen füreinander.“21 Wenn man also im weißen Gewand, mit reinem Herzen und guten Absichten erscheint, bewirkt man ein gutes und süßes Jahr, materiell und geistig, nicht nur für sich und seine Familie, sondern für ganz Israel.

(Adaptiert aus einer Sicha gehalten am 7. Tischrej 5717)