XVII. Das Tora-Gesetz besagt, dass man, wenn man einen Tag von Sefirat haOmer (Zählen der 49 Tage des Omer) versäumt hat, die restlichen Tage zählen muss, ohne einen Segensspruch zu sprechen.1
Dieses Urteil stützt sich auf Folgendes:2
Es gibt eine Ansicht, die die individuelle Zählung eines jeden der 49 Tage der Sefira als eine eigene, unabhängige Mizwa betrachtet. Nach dieser Ansicht hat das Versäumen eines Tages keine Auswirkungen auf die übrigen Tage, weil jeder Tag eine eigene Mizwa ist.
Eine andere Meinung betrachtet die Zählung aller Tage der Sefira als eine einzige Mizwa, d. h., die Zählung aller 49 Tage ist eine einzige, vollständige Einheit. Würde man also einen Tag auslassen, gäbe es keine vollständige Einheit von 49 Tagen mehr. Dies würde bedeuten, dass man diese Mizwa nicht mehr erfüllen kann. Die tatsächliche Regelung in der Praxis besteht darin, die verbleibenden Tage weiter zu zählen, aber ohne einen Segensspruch zu sprechen.
Dies wirft eine Schwierigkeit auf: Wenn das Zählen aller 49 Tage eine einzige Mizwa ist, wie können wir dann einen separaten Segensspruch rezitieren, wenn wir jeden Tag zählen, also 49 Segenssprüche? Es scheint, dass ein Segensspruch nur ein einziges Mal rezitiert werden sollte, entweder zu Beginn oder am Ende der Zählung!
Außerdem wirkt sich das Versäumen eines Tages nach dieser Auffassung nicht nur auf die Zählung der folgenden Tage aus, sondern auch auf die bereits verstrichenen Tage. Wenn also die gesamte Zählung nur eine einzige Mizwa ist, sollte bis zum letzten Tag (kurz vor der Vollendung der Mizwa) kein Segensspruch gesprochen werden, weil immer die Möglichkeit besteht, einen Tag zu versäumen – was dann bedeuten würde, dass alle zuvor gesprochenen Segenssprüche vergeblich gewesen wären.3
Man könnte dieses Problem lösen, indem man sagt, dass es tatsächlich 49 verschiedene Mizwot gibt, d. h., jeder Tag ist eine Mizwa für sich. Die Mizwa des Zählens besteht jedoch darin, dass man in der ersten Nacht die erste Sefira, in der zweiten Nacht die zweite Sefira, in der dritten Nacht die dritte Sefira und so weiter zählen muss. Wenn also ein Tag ausgelassen wurde, kann man nicht mehr zählen. Denn wenn man zum Beispiel den zweiten Tag ausgelassen hat, kann man später nicht mehr sagen: „Heute sind es drei Tage des Omer“, „Heute sind es vier Tage des Omer“ usw., denn es kann keinen dritten oder vierten Tag geben, wenn es keinen zweiten Tag gab. Daraus folgt, dass sich das Auslassen eines Tages nur auf die folgenden Tage auswirkt, nicht aber auf die vorangegangenen, da jeder Tag für sich eine Mizwa ist.
XVIII. Die Tora schreibt mehrere Zählungen vor, wie die Zählung des Omer, die Zählung des Schabbat-Jahres (Schemita) und die Zählung des Jubeljahres (Jowel)4 usw. Dies wirft die Frage auf, wie diese Zählungen zu verstehen sind. Man könnte die bloße Tatsache einer Zählung als eine Realität für sich betrachten [d. h., sie hat einen eigenen Verdienst], außer dass die Tora anordnet, dass diese Realität (das Zählen des Omer, des Schemita oder des Jowel) auch eine Mizwa ist. Alternativ könnte man sagen, dass das Zählen selbst keine unabhängige Realität hat und nur dadurch Bedeutung erlangt, dass es eine von der Tora verordnete Mizwa ist. Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass es sich um eine Mizwa handelt, verleiht dem Zählen Realität und Bedeutung.
Die Annahme einer dieser beiden Ansichten hat praktische Konsequenzen für das Gesetz. Zum Beispiel kann es einen Sklaven geben, der in der Mitte von Sefirat haOmer befreit wurde, und bevor er seine Freiheit erlangte, zählte er alle Tage. Kann er nun die verbleibenden Tage mit einem Segensspruch weiterzählen? Wenn wir die erste Ansicht vertreten, dass die Tatsache des Zählens an sich eine Realität ist, kann der ehemalige Sklave mit einem Segensspruch weiterzählen, weil er auch die früheren Tage gezählt hat. Wenn jedoch die einzige Bedeutung des Zählens darin besteht, dass es eine Mizwa ist, dann könnte er jetzt keinen Segensspruch rezitieren. Denn vor seiner Freiheit gab es keine Mizwa für den Sklaven, zu zählen.5 Sein anfängliches Zählen hatte also keine Bedeutung, was bedeutet, dass es so ist, als hätte er überhaupt nicht gezählt.
(Es scheint einen weiteren Fall zu geben, nämlich den eines Ger Zedek, der mitten in Sefirat haOmer zum Judentum konvertiert. Dieser Fall ist jedoch überhaupt nicht analog, denn der Gijur macht den Ger Zedek zu einer ganz anderen Person; er ist wie ein neugeborener Mensch.6 )
Diese Frage wurde bereits vom Autor von Minchat Chinuch erörtert.7 Er sieht das Problem darin, alle 49 Tage als eine einzige Mizwa zu betrachten, und nicht darin, dass es einen Mangel in der Realität der Zählung gibt. Seiner Ansicht nach gibt es also nicht nur ein Problem für einen Sklaven, der befreit wurde (wie oben erwähnt), sondern auch für einen Minderjährigen, der mitten in der Sefira-Periode die religionsgesetzliche Volljährigkeit erlangte (er wurde Bar Mizwa). Sicherlich gibt es auch für einen Minderjährigen eine Mizwa des Zählens, wegen des Chinuch,8 aber das ist nur eine rabbinische Verpflichtung. Man könnte dieses Beispiel also mit dem Argument abtun, dass eine rabbinische Verpflichtung eine biblische Verpflichtung nicht ergänzen kann.
Wenn wir jedoch der Meinung folgen, dass jeder Tag eine eigene Mizwa ist, dann kann derjenige, der es versäumt hat, einen Tag zu zählen, nicht mehr mit einem Segensspruch weiterzählen, und zwar einzig aufgrund der Tatsache, dass es keinen dritten Tag geben kann, ohne dass es einen zweiten Tag gegeben hat usw., wie oben dargelegt. Daraus folgt, dass die Einbeziehung der früheren Tage nicht wegen ihres Mizwa-Status (d. h., weil es eine tägliche Mizwa zum Zählen gibt), sondern wegen der Realität jedes einzelnen Tages wesentlich ist. In diesem Zusammenhang gibt es nur für den Sklaven, der befreit wurde, ein Problem. Denn in seinem Fall gab es während der Tage seiner Sklaverei überhaupt keine Mizwa des Zählens, und diese Tage haben daher keine Realität. Im Fall des Minderjährigen, der die religionsgesetzliche Volljährigkeit erreicht hat, gibt es jedoch überhaupt kein Problem: Denn auch eine rabbinische Verpflichtung ist immer noch eine Mizwa und verleiht somit den Tagen vor seiner Volljährigkeit Realität.
XIX. Diese ganze Diskussion ist für uns von großer Bedeutung: Der Glaube an das Kommen des Maschiach muss so beschaffen sein, dass „ich jeden Tag sein Kommen erwarte“9 – noch heute Nacht oder morgen früh, inmitten der Tage von Sefira.10
(Der Zemach Zedek sprach einmal über das bevorstehende Kommen des Maschiach an einem Tag, von dem es heißt, dass der Maschiach nicht kommen kann.11 Jemand fragte ihn: „Was bedeutet das? Es ist doch gesagt worden, dass er zu einer solchen Zeit nicht kommen kann?“ Der Zemach Zedek antwortete: „Lasst ihn einfach kommen. Wenn er kommt, wird es Antworten auf alle Probleme geben,12 und auch dieses Problem wird dann gelöst werden!“)
Das Kommen des Maschiach inmitten der Sefira würde uns immer noch erlauben, die verbleibenden Tage mit einem Segensspruch zu zählen. Wir wären dazu sogar in der Lage, wenn wir den Autoritäten zustimmen, die sagen, dass die Mizwa von Sefirat haOmer heutzutage lediglich eine rabbinische Verpflichtung ist,13 und zwar aus dem oben genannten Grund.
XX. Unsere Weisen sagten14 – und Ramban erörtert dies ausführlich15 –, dass die Mizwot, die wir gegenwärtig einhalten, „Unterscheidungsmerkmale im Hinblick auf die Mizwot sind, die in der kommenden Zukunft (dem messianischen Zeitalter) eingehalten werden.“ So sagen wir: „Dort wollen wir vor Dir darbringen ... in Übereinstimmung mit Deinem Willen.“16 Denn erst in der Zukunft wird die Einhaltung der Mizwot wirklich im Sinne von „in Übereinstimmung mit Deinem Willen“ sein. Gegenwärtig sind sie noch nicht auf dieser idealen Stufe der Vollkommenheit, sondern lediglich wie eine Vorbereitung auf die kommende Zeit.17
Das heißt aber nicht, dass man die Bedeutung der heutigen Mizwot schmälern darf, G-tt bewahre. Denn nur durch sie ist man in der Lage, die Mizwot zu erreichen, wie sie in der Zukunft sein werden. Dies ist das bekannte Prinzip: „Die Ursache übersteigt ihre Wirkung.“18
Das Prinzip der heutigen Mizwot wird besonders im Zusammenhang mit Sefirat haOmer gesehen, das im Allgemeinen eine Vorbereitung auf Matan Tora ist.19 Denn nur wenn man jetzt zählt, kann man auch später noch mit einem Segensspruch zählen.
All dies weist auf den besonderen Vorteil der Awoda in der gegenwärtigen Zeit der Galut hin, wie unsere Weisen sagten: „Eine Stunde der Teschuwa (Umkehr) und der guten Taten in dieser Welt ist besser als das ganze Leben in der kommenden Welt.“20
Diskutieren Sie mit