Am Schawuotfest, vor 3329 Jahren, offenbarte sich G-tt am Berg Sinai vor den Augen des jüdischen Volkes und übergab ihm die Thora und ihre Mitzwot. Diese G-ttesoffenbarung wurde von zahlreichen Wundern begleitet: der sonst kahle Berg Sinai blühte auf, die Kranken im Volk wurden auf einmal gesund usw.

Doch dem Talmud1 zufolge gibt es die Thora und Mitzwot nicht erst ab dem Thoraerhalt am Sinai. Bereits unsere Vorväter studierten die Thora und erfüllten die Mitzwot. Was war dann die große Sensation auf dem Berg Sinai?

Das Gesetz des Königs

Der Midrasch erklärt dies anhand eines Gleichnisses:2 Dies gleicht einem König, der festlegte, dass die Bürger Roms nicht nach Syrien aufsteigen und die Einwohner Syriens nicht nach Rom absteigen sollten. Eines Tages hob er dieses Gesetz auf und sagte: Ich mache den Anfang.

So war die Situation vor dem Erhalten der Thora: Die Himmel sind G-ttes Himmel und die Erde gab er dem Menschen.3 Es herrschte eine Trennung zwischen Himmel und Erde. Mit dem Erhalten der Thora jedoch wurde diese Trennung aufgehoben und eine Brücke zwischen Himmel und Erde entstand und G-tt machte den Anfang: G-tt kam auf den Berg Sinai herab.4

„Himmel“ symbolisiert das Spirituelle, die G-ttlichkeit; „Erde“ steht für das Irdische und Materielle. Der Midrasch sagt, dass es vor dem Thoraerhalt eine Trennung zwischen Himmel und Erde gab. Die Bedeutung davon ist, dass es keine Möglichkeit gab, Spiritualität mit Materialismus zu verbinden. Die Gegensätze waren viel zu groß. Und dann geschah am Berg Sinai etwas Sensationelles: Diese Trennwand wurde aufgebrochen und nun war die Möglichkeit gegeben, die materielle Welt mit G-tt zu verbinden.

Die Vorväter und wir

Wenn wir die Haut eines Tieres nehmen (zweifellos etwas sehr Materielles), daraus Pergament erzeugen und darauf die Thora schreiben, wird dieses Pergament etwas Heiliges. Es entsteht eine Verbindung zwischen der spirituellen Heiligkeit der Thoraworte und dem materiellen Pergament, bis das materielle Pergament selbst heilig wird.

Auch wenn ein Jude Tefillin auf seinen Kopf und seinen Arm legt, bringt er Heiligkeit auf seinen Körper. Sogar wenn er Fisch und Fleisch zu Ehren des Schabbat isst, bringt er Heiligkeit über den Fisch und das Fleisch. Diese Fähigkeit, in das Materielle Heiligkeit zu bringen, erhielten wir beim Berg Sinai.

Unsere Vorväter, obwohl sie auch bereits die Mitzwot erfüllten, hatten diese Fähigkeit nicht. Für sie waren die Mitzwot ein rein spirituelles Erlebnis. Sie konnten die Heiligkeit an ihre Gedanken, Gefühle und anderen Seelenkräfte binden, doch ihnen war es nicht möglich, G-tt und Seine Heiligkeit in die materielle Welt zu bringen. Sie konnten nicht einen materiellen Gegenstand nehmen und ihn in etwas Heiliges umwandeln. Diese Fähigkeit erhielten wir erst am Berg Sinai.

Keine Schafshirten

Vor dem Thoraerhalt stand das Materielle im Widerspruch zur Spiritualität. Jemand, der G-tt nahe sein wollte, musste sich vom materiellen Leben so weit wie möglich absondern. An ihn lag es, weniger zu essen und zu trinken und anderen körperlichen Genüssen abzuschwören, um spirituell sein zu können. So taten auch unsere Vorväter. Deshalb waren sie alle Schafshirten, denn sie suchten die Abgeschiedenheit.

Doch der Thoraerhalt am Sinai gibt uns die Möglichkeit, an G-tt gebunden zu sein und gleichzeitig ein weltliches Leben zu führen. Wenn wir essen, arbeiten und Sport betreiben, um dadurch G-tt besser dienen zu können, bringen wir in diese Bereiche unseres Lebens die g-ttliche Heiligkeit. Somit steht das Materielle nicht mehr im Widerspruch zur Spiritualität, da sie miteinander verbunden werden können, bis das Materielle selbst heilig wird.

Und dies ist unsere Aufgabe auf Erden – den Himmel auf die Erde zu bringen!

(Likutej Sichot, Band 3, Seite 887)