Am fünfzehnten des Monat Schwat ist Rosch Haschana für die Bäume1. Nicht nur der Mensch, auch die Bäume haben ihren Rosch Haschana. An diesem Tag wird jeder Baum einer sorgfältigen Betrachtung unterzogen und sein Schicksal im kommenden Jahr wird bis aufs kleinste Detail an diesem Tag bestimmt. Rosch bedeutet bekanntermassen nicht nur Beginn, sondern Kopf. Mit dem Beginn des neuen Jahres beginnt auch ein neues Leben.

Doch ein Urteil kann nur gesprochen werden, wenn Schuld oder Unschuld in Betracht gezogen werden. Kann den Baum aber Schuld oder Unschuld treffen? Die Natur folgt ja nur ihren Gesetzen, die durch G-tt während der Schöpfung in Bewegung gesetzt wurden und trägt doch insofern auch keinerlei Verantwortung für ihr Treiben?!

Als der Mensch am sechsten Tag der Schöpfung zur Welt gebracht wurde, wurde ihm eine grosse Aufgabe zuteil: Er sollte dieser wunderschönen, von Natur her vollkommenen Welt, eine geistige Dimension verleihen. Der Mensch kann zum Partner in der Schöpfung werden, indem er seinen Anteil dazu beiträgt, das Natürliche dem Übernatürlichen, Himmel und Erde einander näher zu bringen. Er soll die Natur und die Naturgesetze für geistige Zwecke verwenden. Doch dem Menschen wurde freie Hand gelassen, er kann und muss selbst entscheiden, ob er sich diesem g-ttlichen Ziel fügen oder entgegensetzen will.

Somit ist es der Mensch, dem am Tu BiSchwat das Urteil gesprochen wird. Früchte sind Luxusgüter. Auch sie wurden geschaffen, um dem Menschen seine Aufgabe zu erleichtern. Die Freuden und den Genuss, die ein Mensch beim Konsum einer Frucht erlebt, ermöglichen es ihm, danach mit noch mehr Elan seine Lebensaufgabe zu erfüllen. Im Talmud2 wird über Raw Nachman erzählt, der schwierige Fragen der Halacha erst entscheiden konnte, nachdem er am selben Tag Fleisch genossen hatte. Erst dann fühlte er sich in der Lage, die schwierigen Erwägungen einer gerichtlichen Untersuchung genau zu analysieren und das bestmögliche Urteil zu fällen. Aber werden der Baum und seine Früchte wirklich zu diesem Zweck genutzt? Oder dienen die Luxusgüter gar nur, um das Elend weniger beglückter aus dem Gewissen zu verdrängen? Diese und ähnliche Fragen müssen wir uns am Tu BiSchwat stellen.

Obwohl Tu BiSchwat in den frühen Quellen fast keine bedeutende Rolle zukommt, wurde dieser Tag in späteren Generationen immer mehr zum Status eines Feiertag erhoben. Erst im Mittelalter finden wir die ersten Quellen, die das Fasten und den Hesped (die Trauerrede nach einem Verstorbenen) an diesem Tag untersagen. Und erst im Magen Awraham (im 17. Jahrhundert), wird die Tradition, an diesem Tage verschieden Früchte, wenn möglich exotische, zu geniessen, festgehalten.

Heute ist Tu BiSchwat zu einem nationalen Feiertag geworden. Einen Tag des Urteils und des Gerichts feiern? Ja! Wir freuen uns und möchten dieser Freude auch Ausdruck verleihen, dass es überhaupt ein Gericht gibt! Dass es Gerechtigkeit und Zwecksmässigkeit gibt, dass unser Leben und Handeln von Bedeutung sind. Dass diese Welt keinen kosmischer Zufall darstellt, dass ihr ein Sinn zugesprochen wurde. Und unsere Freude an der Gerechtigkeit und Zwecksmässigkeit dieser Welt, wird hoffentlich auch dazu beitragen, das Urteil selbst positiv ausfallen zu lassen!