Rabbi Schimon war ein armer Mensch.

Einmal kam er nach Krakau, wo viele reiche Juden wohnten. Er wurde gebeten, in der Synagoge zu predigen und den Gemeindemitgliedern einige ernste Worte des Tadels zu sagen.

Rabbi Schimon stimmte zu, doch nur unter der Bedingung, dass man ihm zuvor für drei Tage ein Darlehen von fünfzigtausend Rubeln gebe. Wegen seines guten Rufes, auch was seine Erblichkeit betraf, zögerten die Sprecher der Gemeinde nicht, die Summe aufzubringen und sie Rabbi Schimon zu überlassen.

Im Verlaufe dieser drei Tage nun hielt der Rabbi einige Reden, die nicht nur wegen ihres Inhalts hervorstachen, sondern auch wegen der schonungslosen Deutlichkeit, mit der er den Sittenverfall der krakauer Juden, ohne Ansehen der Person geisselte.

Als Rabbi Schimon am Ende der drei Tage das Geld zurückbrachte, bemerkten die Verantwortlichen, dass er genau dieselben Münzen zurückgab, die er sich geborgt hatte, was nur bedeuten konnte, dass er keinen Gebrauch von dem Geld gemacht hatte, als es sich in seinen Händen befunden hatte. Sie konnten ihre Überraschung nicht überwinden und fragten ihn, wenn das so sei, warum er sie denn überhaupt um ein Darlehen ersucht habe.

Da erklärte er einfach: „Als ich gebeten wurde, vor so vielen reichen Leuten zu predigen, und sie überdies noch über ihre Vergehen tadeln sollte, hatte ich Angst, ich könnte den Mut verlieren und wegen meiner Armut nicht deutlich genug werden. Doch als ich fünfzigtausend Rubel Bargeld in meiner Tasche spürte, hatte ich keine Bedenken mehr, jedermann für seine Sünden zu tadeln, wie reich er auch sei.“