Am neunzehnten Tag des Monats Kislew 5559 (1798) verließ R. Schneor Salman von Ljadi das zaristische Gefängnis in St. Petersburg als freier Mann. 53 Tage zuvor war er, eine der einflussreichsten rabbinischen Führungspersönlichkeiten Russlands, nach gezielten Verleumdungen von Feinden der chassidischen Bewegung als mutmaßlicher Hochverräter festgenommen worden. Seine Aktivitäten als Rabbiner, Religionsphilosoph und Repräsentant der jüdischen Gemeinde wurden bis ins Detail untersucht, er selbst eingehenden Verhören unterzogen – auf die gegen ihn erhobene Anklage stand die Todesstrafe. Als sich sämtliche Vorwürfe als haltlos erwiesen, wurde er freigelassen – am neunzehnten Kislew, der seither als „Chassidisches Rosch haSchana“ gefeiert wird, mit einem gemeinsamen Festmahl und dem Vorsatz, in Gruppen geteilt den gesamten Talmud im kommenden Jahr zu studieren (Chalukat ha-Schass).
Auf dem Spiel stand während der Untersuchung gegen R. Schneor Salman mehr als das Leben eines Einzelnen. Der Inhaftierte war Teil einer Gruppe von charismatischen Gelehrten, die sich die Verbreitung von Ideen und Idealen des Chassidismus zur Aufgabe gemacht hatten. Die Anklage gegen R. Schneor Salman war auch eine Anklage gegen die chassidische Bewegung, die damals gerade einmal fünfzig Jahre alt war. Ein Schuldspruch hätte die Bewegung geistig und organisatorisch tief erschüttert.
Aufhorchen ließ die Reaktion des Angeklagten selbst. Der wahre Grund für seine Haft, so war er überzeugt, waren die Vorwürfe, die auf höheren spirituellen Ebenen vorgebracht wurden, im „Himmlischen Gerichtshof“ gewissermaßen – gegen seinen Versuch, die Tiefendimension der Tora leichter verständlich und leichter zugänglich zu machen. Der Chassidismus forderte eine Rückbesinnung auf die wahren Werte der Tora, und als Mittel dazu sahen seine geistigen Führer, und R. Schneor Salman mit seinem Buch Tanja im Besonderen, die Offenbarung von mystischen Konzepten des Judentums, die bis dahin breiten Kreisen vorenthalten waren und nur handverlesenen Gelehrten übermittelt wurden.
Seine Freilassung aus physischer Gefangenschaft sah R. Schneor Salman folglich als Echo und direktes Resultat der Entkräftung aller spirituellen Vorhaltungen. Mehr noch sei dies eine Unterstützungserklärung und g-ttliche Aufforderung, die Verbreitung der chassidischen Lehre mit vervielfachtem Einsatz und Elan voranzutreiben. Und tatsächlich leitete die Freilassung von R. Schneor Salman eine neue Ära für den Chassidismus ein – in der Ausarbeitung seiner Lehren ebenso wie in dem praktischen Einfluss auf die jüdischen Gemeinden und das Leben des Einzelnen.
Die Tora hat zwei Dimensionen
Die Tora hat zwei Dimensionen – eine offenbarte und eine verborgene. Die offenbarte Dimension enthält die Gesetze der Tora, die ein Ausdruck des Willens G-ttes sind – dieser Aspekt heißt „Körper der Tora“. Neben dem „Körper“ gibt es auch die „Seele“ der Tora – mit Einsichten über Wesen und Offenbarung von G-ttlichkeit, den Sinn der Schöpfung und das Wesen der menschlichen Seele. Diese metaphysische Dimension der Tora ist es, die in den Lehren des Chassidismus behandelt wird.
Ein Axiom jüdischen Denkens besagt, dass das spirituelle Niveau seit dem Geben der Tora am Berg Sinai mit jeder Generation nachlässt.1 So war die Generation der Mischna (ca. 70-200 nZ.) zum Beispiel größer als die des Talmud (ca. 200-500 nZ.). Diesem Denkmuster folgend ist aber schwer zu verstehen, warum der solch erhabene, lang verborgene Konzepte lehrende Chassidismus ausgerechnet den späteren, spirituell niedrigsten Generationen offenbart wurde?
Zwei Erklärungen werden dafür in den Schriften der chassidischen Meister angeführt:
- Mit Hilfe des Chassidismus, der „Seele der Tora“, gelingt es, schlummernde seelische Kräfte des Menschen aufzurufen. So kann der Mensch seinen Daseinsgrund – mit jeder Handlung G-ttlichkeit in eine spirituell öde und dunkle Welt zu bringen – trotz der wachsenden Intensität des Exils erfüllen. Ganz gezielt wurde also dieser Bereich der Tora für die späteren Generationen reserviert, weil er da am dringendsten benötigt wurde.
- Was mit der Tora verbunden ist, erfordert hinreichende Vorbereitung; und bekanntlich werden im messianischen Zeitalter die Geheimnisse der Tora der gesamten Menschheit offenbart. Der Chassidismus, der ebenfalls die Geheimnisse der Tora lehrt, ist somit ein Vorgeschmack und eine Vorbereitung auf das messianische Zeitalter.2 Daher wurde der chassidische Aspekt der Tora insbesondere in den letzten Generationen vor der Ankunft des Messias offenbart.
Hilfsmittel – oder Zweck an sich?
Zwischen den beiden genannten Gründen besteht ein wichtiger Unterschied. Der erste Grund ist defensiver Art: dem Menschen die notwendige Kraft zu geben, den Herausforderungen des Exils entgegen zu stehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Aufgabe des Menschen, gegen die spirituelle Dunkelheit zu kämpfen.
Der zweite Grund ist positiver Natur – der Chassidismus als Vorbereitung auf das messianische Zeitalter. Dem Widerstand gegen spirituelle Dunkelheit kommt dabei keine Bedeutung zu, weil es in der messianischen Zeit keine derartige Dunkelheit geben wird, wie geschrieben steht: „Und den Geist der Unreinheit werde Ich von der Erde tilgen.“3 Statt einem Hilfsmittel für den Menschen liegt der Nachdruck auf dem Menschen als Zweck an sich – die „Seele der Tora“ vereint die Seele des Menschen mit G-tt und lässt ihn, ähnlich dem künftigen messianischen Zeitalter, immer höher im Wissen um G-tt steigen.
Kohlen und Perlen
Diesen beiden Erklärungen fügt R. Schneor Salman in einem Gleichnis weitere Details hinzu: „Perlen stammen aus der Tiefe des Meeres. Kohle, die Wärme und Licht erzeugt, kommt aus der Tiefe der Erde. Man braucht einen Verwalter, der den Arbeitern sagt, wo und wie sie abgebaut wird. Die Arbeiter können sich auf ihren Verwalter verlassen, aber nur, wenn sie seine Anweisungen genau befolgen. Dabei können sie sich zwar auf das Wissen des Verwalters verlassen, nicht aber auf seine Sauerstoffzufuhr. Jeder Arbeiter braucht seinen eigenen Luftschlauch, der ihm Sauerstoff von oben bringt. Wenn nicht, stirbt er. Ähnlich braucht auch ein Perlentaucher einen Luftschlauch.“
Der Chassidismus, so wird dieses Gleichnis interpretiert, entspricht sowohl der Kohle im Boden als auch den Perlen im Meer. Der erste Grund für seine Offenbarung ausgerechnet in unserer Zeit steht in Zusammenhang mit den Kohlen im Gleichnis; der zweite Grund mit den Perlen. Betrachten wir nun dieses Gleichnis näher.
Kohle, sagt R. Schneor Salman, erzeugt „Wärme und Licht“. Wärme und Licht im metaphorischen Sinn, wenn es etwa um Beziehungen (zwischen Menschen oder zwischen Mensch und G-tt) oder einzelne Handlungen als deren Symptome geht, sind schwer zu greifen und zu benennen, und kaum auf einer Skala mess- und vergleichbar, selbst wenn dieser Skala qualitative und nicht quantitative Abstufungen zu Grunde liegen sollten. Der Chassidismus hat dem Judentum keine einzige Mizwa hinzugefügt, und die 613 Mizwot wurden noch vor der Offenbarung des Chassidismus in jeder Einzelheit befolgt. Bei zunehmender Dunkelheit und Kälte des Exils war es aber dann der Chassidismus, der das Licht und die Wärme lieferte, um der Erfüllung der Mizwot und dem Dienst an G-tt erneut inneres Leben und Freude einzuhauchen.
Für sich selbst atmen
Die Kohle, so das Gleichnis, liegt bereit, um Licht und Wärme zu spenden. Für den Abbau aber braucht man einen Verwalter, „der den Arbeitern sagt, wo und wie sie abgebaut wird.“ Dieser Verwalter ist der Rebbe in jeder Generation und „die Arbeiter können sich auf ihren Verwalter verlassen, aber nur“, ermahnt R. Schneor Salman, „wenn sie seine Anweisungen genau befolgen.“ Der Rebbe zeigt, wie man an die Kohle gelangt, aber abbauen muss sie der Mensch selbst, und dafür braucht er seinen eigenen Luftschlauch.
Die eigene Luftzufuhr und das selbstständige Atmen stehen für das Lernen der chassidischen Werke. „Lernen“ ist in diesem Zusammenhang ein Wort, dem es an Kraft und Ausdruck fehlt, denn gemeint ist damit weder ein gelegentliche Lesen chassidischer Aphorismen, noch ein „Studium“ der chassidischen Texte als akademischer Denksport. Gemeint ist ein „Erlernen“ und „Aneignen“ der Konzepte, bis Lernender und Gelerntes eins werden. Vor R. Mendel von Kotzk brüstete sich einst ein Mensch damit, den gesamten Talmud gelernt zu haben. R. Mendel gab zur Antwort: „Du hast den Talmud gelernt. Aber was hat der Talmud dich gelehrt?“ Das Studium des Chassidismus muss außerdem täglich stattfinden, ist es doch die Luftversorgung des Menschen, und als solche auch nur für einen einzigen Tag unabdingbar.
Im Gleichnis wird der Chassidismus durch Kohle dargestellt und durch Perlen. Kohle lagert in der Erde, Perlen liegen im Meer. Den Unterschied zwischen Erde und Meer, so die chassidischen Meister, erkennt man am Unterschied zwischen Land- und Meerestieren. Fische müssen sich im Wasser aufhalten, sonst sterben sie. Auch Landtiere hängen von ihrem Habitat, der Erde, ab. Dass die Erde ihre Lebensquelle ist, zeigt sich aber meist nicht so offensichtlich wie, dass das Meer die Quelle alles Lebens für Fische ist.
Dasselbe gilt auch für Erde und Meer selbst. „Meer“ steht dabei für spirituelle Welten, in denen G-ttlichkeit offensichtlich ist. Die Geschöpfe jener Welten verspüren daher die ständige Notwendigkeit, mit dem Quell ihres Lebens verbunden zu bleiben. Wird diese Verbindung unterbrochen, das spüren sie, dann hören sie auf zu bestehen. Solche Welten werden als „verborgene Welten“ bezeichnet, weil die Existenz ihrer Geschöpfe in ihrer Quelle „verborgen“ ist und weil ihre Geschöpfe sich nicht unabhängig fühlen, so wie Fische im Meer verborgen sind und von ihm abhängen.
„Erde“ steht für jene Welten, deren Geschöpfe nicht die g-ttliche Kraft wahrnehmen, die sie erschafft. Sie fühlen sich von ihrer Quelle unabhängig und getrennt; ihre Existenz ist nicht verborgen. Diese Welten werden als „offenbarte Welten“ bezeichnet.
Eintauchen in G-tteserkenntnis
Kohle und Erde, und Perlen und Meer stehen für zwei Arten des Studiums von Chassidismus. Die Art von Studium, wie von der Kohle vertreten, verleiht dem spirituellen Leben einer Person Vitalität und Kraft, aber sie und G-ttlichkeit bleiben weiterhin getrennte Einheiten. Diese Dimension wird also zu Recht mit „Erde“ in Verbindung gebracht, denn die Person befindet sich noch immer in einem Zustand von „Offenbarung“, und ihre Existenz ist nicht in G-ttlichkeit verborgen.
An diesem Punkt tritt die höhere Ebene, wie durch das „Meer“ versinnbildlicht, in ihre Rechte. Auf dieser Bewusstseinsebene erkennt der Mensch klar die Quelle seines Lebens, G-ttlichkeit, und vertieft sich darin völlig, sodass er „verborgen“ ist. Eine von G-ttlichkeit abgetrennte Existenz erscheint ihm unmöglich, er weiß, dass er ohne permanente Verbindung aufhörte zu bestehen.
Wie wird diese Ebene erreicht? Durch ein Lernen von Chassidismus in überschwänglichem Maß, statt nur in zeitlich eng begrenztem Rahmen. Im Gegensatz zum „Körper der Tora“, dessen Studium nicht zwingendermaßen zur Erkenntnis von G-ttlichkeit führt,4 ist der Chassidismus das Wissen von G-tt. Taucht ein Mensch vollkommen darin ein, ist er von G-ttlichkeit umgeben und sich dessen auch bewusst. Das ist ein Vorgeschmack auf das messianische Zeitalter, wenn „die Erde voll ist der Erkenntnis des Ewigen, wie Wasser die Meerestiefe bedecken.“5
Perlencollier zur Hochzeit
Dass die chassidische Lehre das Studium der Tora und das Erfüllen der Mizwot mit neuer Vitalität auflädt, ist von höchster Bedeutung für ein spirituelles Überleben in der Dunkelheit des Exils. Das zweite Ergebnis des Chassidismus, dass der Mensch auf eine Art über G-ttlichkeit lernt, dass er dadurch eins mit G-tt wird, ist nicht ganz so entscheidend und wird daher mit Perlen verglichen, einem für das Leben nicht notwendigen Luxusgut.
R. Schneor Salman konzentriert sich in seinem Gleichnis mehr auf die Kohle, die Wärme und Licht erzeugt, Dinge also, die lebenswichtig sind. Das ist im Kontext von R. Schneor Salmans Leben (1745-1812) zu sehen, als die Ankunft des Messias noch nicht so unmittelbar bevorstand; folglich war damals auch die Notwendigkeit, sich auf das messianische Zeitalter einzustimmen, nicht so dringlich. Entscheidend zu seiner Zeit war es, dass Juden nicht Opfer der Exilsirrungen wurden. Chassidismus als Mittel zum Zweck war wichtiger als Chassidismus als ein Selbstzweck. Kohlen brauchte man dringend, Perlen waren Luxus.
Perlengeschmeide aber sind kein Luxus, wenn man am Königshof vor Seiner Majestät steht. Respekt für den König! – da braucht man edles Tuch von Armani statt Polyesteranzug von H&M; Juwelen und Perlen sind keine Verschwendung mehr, sondern Ehrensache; Bling-Bling wird zum Zeichen guten Anstandes.
Die Ankunft des Messias – so sagt der Prophet unserer Generation – steht unmittelbar bevor. Mit ihr geht die Dunkelheit der Verbannung zu Ende und die Erlösung kann beginnen. Die Erlösung, sagen unsere Weisen, ist eine „Heirat“ zwischen dem jüdischen Volk und G-tt.6 Auf eine Hochzeit muss man sich vorbereiten – auch mit Perlen, die die Braut schmücken werden. Was daher anlässlich des Empfanges des Maschiach ansteht, ist keine ausgedehnte Shoppingtour bei exklusiven Innenstadt- Juwelieren, sondern dass jede/r Einzelne ausgedehnt und intensiv den inneren Aspekt der Tora lernt, wie er im Chassidismus erklärt wird.
Der Sohar erklärt, Juden in der Verbannung seien wie eine Braut in einer Gerberei.7 Wegen Seiner großen Liebe zu ihr ignoriert der Bräutigam, G-tt, bereitwillig den üblen Geruch – die Folgen der Verbannung. Jetzt allerdings, wo die Erlösung – die „Hochzeit“ – bevorsteht, sollten wir schleunigst die Arbeitskluft der Gerberei gegen elegante Hochzeitsausstattung tauschen, und Schmuck anlegen, bis wir wie der Morgentau funkeln. Und indem wir unseren Geist und die Welt mit dem Chassidismus füllen „wie Wasser die Meerestiefe bedecken“, bringen wir den Hochzeitstermin zwischen G-tt und dem jüdischen Volk noch ein Stück näher.8
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