“Ich wurde nur erschaffen, um meinem Meister zu dienen” (Sprüche der Väter)

In einer Zeitungsanzeige stand einmal: „Links, rechts, links, rechts...“ immer wiederholt. Unten auf der Seite stand in Fettdruck: “Aber wohin gehen wir?“ Während wir durch des Lebens raue Wellen gehen, brauchen wir unseren Orientierungssinn. Solange wir wissen, wohin wir gehen und was unsere Aufgabe auf dieser Welt ist, können wir das Schiff auf Kurs halten.

Es gibt verschiedene kabbalistische Schriften, die sich mit dem Sinn der Schöpfung befassen. Im Sohar steht geschrieben, dass die Welt erschaffen wurde, „damit wir Ihn kennen lernen können“ (Sohar, Parschat Bo 42b). Rabbiner Chaim Wital schreibt im Etz Chaim: „G-tt hatte den Wunsch, die ganze Bandbreite und Perfektion Seiner Kraft und Taten zu offenbaren.“ In dem vorliegenden Kapitel werden wir uns auf die Ausführungen des Rabbiners Schneur Salman, des Gründers von Chabad, konzentrieren. Er hat in seinem Werk Tanja (Kapitel 36) die Midrasch zitiert und dargelegt: „G-tt wünschte sich, eine Wohnstätte in den niedrigeren Welten zu haben (Dira BeTachtonim).“ Daher hat G-tt beschlossen, dass sich der Sinn der Schöpfung in der niedrigsten der Welten abspielen sollte.

Spätere Schriften der Chassidischen Philosophie analysieren jedes Wort dieses Midrasch-Zitats anhand der folgenden Fragen:

1. Was ist mit dem Begriff „Wunsch“ gemeint? Hat G-tt Wünsche? Fehlt Ihm etwas, dass erfüllt werden muss?
2. Was ist genau mit dem Begriff „Dira“ gemeint? Im modernen Hebräisch bedeutet Dira „Wohnung“. Warum sollte G-tt eine Wohnung in dieser Welt haben wollen?
3. „BeTachtonim“. Dieser Begriff beinhaltet, dass es unsere Aufgabe als Menschen ist, diese Wohnung zu schaffen. Wie genau können wir das tun?

Um eine Wohnstätte zu schaffen, müssen wir die physische Welt erhöhen und mit G-tt verbinden. Das ist die Grundlage der Mitzwa-Erfüllung. Der Begriff Mitzwa bedeutet neben der Bedeutung „Gebot“ auch „Verbindung“. Die 613 Mitzwot der Tora sind die Art und Weise, wie wir jeden Aspekt unseres weltlichen Lebens mit G-tt verbinden können. Genauso, wie wir uns in unserer dira (Wohnung) wohl fühlen wollen, sollten wir auch sicherstellen, dass G-tt sich in dieser physischen Welt zuhause fühlt. Wie können wir das erreichen? Wenn wir die jüdischen Speisegesetze halten, dann lassen wir G-tt sich in unserer Küche zuhause fühlen. Er fühlt sich an unserem Arbeitsplatz zuhause, wenn wir uns in unseren Geschäftsbeziehungen moralisch einwandfrei verhalten, und Er fühlt sich in unserem Wochenablauf zuhause, wenn wir den Sabbat halten. Dira BeTachtonim bedeutet, dass wir die Gaschmiut (physische Welt) mit Ruchniut (Spiritualität) erfüllen und dadurch ihren G-ttliche Kern offenbaren.

Die menschliche Wohnung besteht nicht nur aus vier Wänden. Ohne Möbel ist sie kahl. Ein erfahrener Innenarchitekt kann uns Ratschläge geben, um unsere Wohnung so einzurichten, dass wir uns darin wohl fühlen. Auch eine Wohnstätte für G-tt soll nicht nur durch Mitzwa-Erfüllung ein Behälter für das G-ttliche sein, sondern sich mit G-ttlichem Licht erfüllen. Daher sollen wir bei der Mitzwa-Erfüllung von Liebe und Ehrfurcht G-ttes durchdrungen sein. Wenn man eine Mitzwa wunderschön mit Liebe und Freude erfüllt, dann wird die Wohnstätte mit Elokit (G-ttlichkeit) erleuchtet. So sehen wir, dass die Mitzwa aus zwei Teilen besteht: Die Tat und die Kawanna (Absicht). Der Begriff Tat bezieht sich auf die physische Welt, da die Mitzwa in der physischen Welt vollzogen wird, während sich der Begriff Absicht auf die spirituelle Dimension bezieht.

So gesehen ergänzen der im Sohar („damit wir Ihn kennenlernen können“) und der in Etz Chaim angeführte Schöpfungszweck („G-tt hatte den Wunsch, die ganze Bandbreite und Perfektion Seiner Kraft und Taten zu offenbaren“) den letztendlichen Sinn der Schöpfung: Dira BeTachtonim. Obwohl der letztendliche Sinn der Schöpfung darin bestand, eine Wohnstätte für G-tt in dieser physischen Welt zu erschaffen, muss diese Wohnstätte durch G-ttlichkeit erhellt sein. Und diese Beleuchtung kommt daher, dass man „Ihn kennt“ und dass man eine „Offenbarung Seiner wahren Kräfte“ erlebt.

G-tt als Allmächtiges Wesen hätte sicherlich die physische Welt ohne Zwischenstufen und Kettenordnung der Schöpfung erschaffen können. Die Kabbala offenbart jedoch, dass Er die Welt tatsächlich in einer bestimmten Reihenfolge erschuf, d.h. Er offenbarte zuerst das Or Ein Sof, dann die höheren Welten, und schließlich, nach verschiedenen Stufen der Verhüllung, schuf Er diese Welt. Der Grund, warum Er diese Seder Hischtalschlut erschuf, bestand darin, diese Kettenordnung zurück verfolgen zu können, und dabei über den immensen Umfang der Größe G-ttes nachzudenken. Dadurch werden wir zu großer G-ttesliebe und Ehrfurcht angeregt. Das Resultat dieser Meditation ist, dass unsere Mitzwa-Ausübung in dieser Welt von dem „Wissen G-ttes“ mit Ahawa (Liebe) und Jira (Ehrfurcht) durchdrungen ist, wodurch die Wohnstätte erleuchtet wird.

Jetzt können wir uns auch mit dem Begriff „Wunsch“ beschäftigen, der in der Midrasch verwendet wird. Es gab keinen logischen Grund für die Schöpfung der Welt. Daher wird in der Midrasch der Gedanke des „Wunsches“ eingeführt. Der Begriff „Wunsch“ beinhaltet nicht, dass es Oben eine Art Körperlichkeit gibt, sondern vielmehr, dass G-tt kein besonderes Bedürfnis dafür hatte, die Welt zu erschaffen – Er hatte einfach den Wunsch. Wenn wir G-ttes Wunsch erfüllen, dann ist es unsere Absicht, Seinen Willen zu erfüllen, - eben weil Er es so will. Rabbiner Schneur Salman sagte: „Bezüglich eines Wunsches darf man keine Fragen stellen“. Damit meinte er, dass wir niemanden nach dem Warum seines Wunsches fragen sollen, weil es für Wünsche keine logischen Gründe gibt. So war es auch bei der Schöpfung der Welt: G-tt fehlte nichts, als Er die Welt erschuf. G-tt „wünschte“ sich vielmehr, eine Dira BeTachtonim zu haben. Und wir haben die Ehre, diese Aufgabe auszuführen. Das bedeutet nicht, dass es sich um eine bedeutungslose Aufgabe handelt, nur weil G-tt der Inbegriff der Güte ist und es in der Natur eines gütigen Wesens liegt, uns seine Güte zuteil werden zu lassen. Denn das größte Geschenk, das uns G-tt geben kann, ist Er selbst. G-tt „wünschte“ sich daher, eine Welt zu erschaffen, in der Er uns diese Güte zuteil werden lässt. Durch die Schöpfung der physischen Welt und die Erschaffung einer Dira BeTachtonim können wir eine Offenbarung des Wesens G-ttes erleben.

Es ist jedoch eine formidable und herausfordernde Aufgabe, eine Wohnstätte für G-tt zu bauen. Wir leben in einer Gesellschaft, in welcher der menschliche Körper über alles verehrt wird. Außerdem erwarten wir die sofortige Erfüllung seiner Wünsche. Wenn man dies aus der Perspektive des Rabbiners Schneur Salman und seines Werkes Tanja betrachtet, dann können wir sagen, dass die Welt voller Kelipot und Sidra Achra ist (vgl. Kapitel 16 „Kelipot und Sidra Achra).

Welche Werkzeuge hat uns G-tt gegeben, um die Aufgabe, eine Dira BeTachtonim in dieser materiellen Welt zu bauen, zu bewältigen? König Salomo sprach: „Die Kerze G-ttes ist die Seele des Menschen“ (Sprüche des Salomo 20:27). Die Bedeutung dieses Verses besteht darin, dass G-tt die Seele auf diese Welt hinunterschickt, um wie mit einer Kerze, die spirituelle Dunkelheit zu erhellen. Die Weisen sagen dazu: “Die Seele wurde, bevor sie auf diese Welt hinunterkam, „unter dem G-ttlichen Thron der Herrlichkeit heraus gemeißelt“. Aus kabbalistischer Sicht bedeutet dies, dass die Seele in den höheren Welten wohnte. G-tt schickt dann die Seele für eine kurze Lebensspanne auf diese Welt hinunter, um die Aufgabe Dira BeTachtonim zu erfüllen. Nach kurzem Aufenthalt auf dieser Welt kehrt sie zu ihrer himmlischen Wohnstätte zurück, wo sie für ihre Arbeit reich belohnt wird. Unsere Weisen haben uns vermittelt, dass all die Vergnügen dieser Welt nicht einmal einem augenblicklichen Vergnügen in der zukünftigen Welt gleichkommen. Die Weisen nennen es eine Belohnung, sich „in den Strahlen der Schechina“ zu sonnen. Das Vergnügen, G-ttlichkeit zu erleben, ist viel größer als die Freude, die wir auf dieser Welt erleben können.

Zum Beispiel kann eine Seele dadurch belohnt werden, dass sie in den niederen Garten Eden in der Welt der Yetzira (Formation) eintreten darf. Hat es die Seele verdient, dann darf sie den höheren Garten Eden in der Welt Beria (Schöpfung) betreten. In jeder Welt gibt es sehr viele Ebenen. Jede Seele wird mit einer bestimmten Portion G-ttlicher Offenbarung belohnt, die in direktem Verhältnis zu ihren Bemühungen auf dieser Welt steht.

Indem die Seele auf diese Welt kommt, kann sie es sich verdienen, zu einer höheren Ebene im Garten Eden aufzusteigen. Das kann die Seele dadurch erreichen, dass sie sich mit einem Körper in einer Welt voller Kelipot (Bedeckungen spiritueller Unreinheit) einhüllt. Während ihres Aufenthaltes auf dieser Welt sehnt sich die Seele nach ihrer Quelle, gleich einem von seinen Eltern getrennten Kind nach der Wiedervereinigung. Dieses Gefühl der Sehnsucht erzeugt eine starke Bindung zwischen Eltern und Kind. Es wird besonders deutlich, wenn die Seele zu ihrer himmlischen Wohnstätte zurückkehrt. Diese Gefühle heben die Seele auf eine höhere Ebene im Garten Eden. In dieser Hinsicht liegt der Sinn des Abstiegs der Seele darin, einen Aufstieg in die zukünftige Welt zu ermöglichen. Diese Welt ist demnach nur ein Sprungbrett zur zukünftigen Welt.

In chassidischen Schriften steht jedoch geschrieben, dass der wahre Abstieg auf diese Erde nicht einen Aufstieg im Garten Eden bedeutet, sondern, dass die Seele in einem Körper dazu beiträgt, den Sinn der Schöpfung zu erfüllen. Die Seele selbst bedarf keiner Verbesserung, da die Seele ein G-ttlicher Funken ist. Sie wird auf diese Erde geschickt, - eben um diesem Schöpfungssinn auszuführen, indem sie den Körper und die materielle Welt erhöht. Wenn die Seele von den unmittelbaren Offenbarungen des Garten Edens entfernt, einer spirituellen Wüste ausgesetzt ist, wird sie sich mit ihren wesentlichsten Ebenen zum Zwecke der Erfüllung des Sinns der Schöpfung verbinden. Das ist vergleichbar mit Menschen, die schreckliche Torturen dadurch überlebten, weil sie innere Stärken, die ihnen zuvor gar nicht bewusst waren, mobilisierten.

Die einzige Kraft, welche die körperliche und materielle Welt transformieren kann, ist Atzmut (Wesen G-ttes). Nur die Kraft des Atzmut kann etwas aus nichts erschaffen, und nur die Kraft des Atzmut kann dieses Etwas mit Einsicht und Verständnis dieses Nichts, aus dem es erschaffen wurde, erfüllen.

Im Sohar steht geschrieben, dass Israel, die Tora und G-tt eins sind. Das bedeutet, dass die Nefesch Elokit (die G-ttliche Seele des Menschen), die Teil G-ttes ist, die Kraft des Atzmut hat. Dadurch kann sie G-ttlichkeit sogar in einer körperlichen Welt offenbaren, deren Werte das Gegenteil von Spiritualität vertreten. Eine wahre Verbindung mit Atzmut wird nur dann hergestellt, wenn ein Mitzwa (Gebot) auf dieser Erde gehalten wird. Nur auf dieser Erde, die kein Behälter für G-ttlichkeit ist, kann man das wahre Wesen G-ttes offenbaren.

Der Gründer von Chabad, Rabbiner Schneur Salman, sagte: „Ich will nicht Deinen Garten Erden, ich will nicht Deine zukünftige Welt – ich will nur Dich (G-tt)“. Damit meinte er, alle Offenbarungen des Gartens Eden und der höheren Welten sind nicht annähernd so eindrucksvoll, wie die letztendliche Verbindung, die wir beim Erfüllen eines Gebot auf dieser Erde erleben, weil sie eine Offenbarung G-ttes ist. In vielen Kommentaren steht geschrieben, dass die Belohnung für die Erfüllung eines Gebotes die Erfüllung eines weiteren Gebotes ist. Aus Rabbiner Schneur Salman’s Perspektive gesehen, ist jedoch die Belohnung des Gebotes das Gebot selbst, das eine Verbindung mit Atzmut darstellt.

Jetzt können wir die Worte der Weisen in den Sprüchen der Väter besser verstehen, die besagen: „Besser eine Stunde himmlischen Vergnügens in der zukünftigen Welt, als alle Vergnügen dieser Welt“ (Sprüche der Väter 4:17). So gesehen ist unsere Welt nur ein Sprungbrett für die zukünftige Welt. Es ist es daher sehr wohl wert, auf die flüchtigen Vergnügungen dieser Welt zu verzichten, wenn wir brillante Offenbarungen der höheren Welten vor uns haben. Trotzdem besteht der Sinn der Schöpfung nicht in den Belohnungen der zukünftigen Welt. Wir leben nicht für das zukünftige Leben. Daher lernen wir in der Mischna: „Eine Stunde der Rückkehr zu G-tt und guter Taten in dieser Welt ist besser, als die ganze zukünftige Welt“. Obwohl die Offenbarungen der höheren spirituellen Welten herrlich sind und eine tatsächliche Belohnung für die Bemühungen der Seele darstellen, besteht der letztendliche Wunsch G-ttes darin, dass wir zu Ihm zurückkehren (Teschuwa) und gute Taten auf dieser Erde vollbringen.

Wenn eine Seele ihre Aufgabe auf dieser Welt erfüllt, indem sie eine Wohnstätte für G-tt erbaut (Dira BeTachtonim), dann wird dadurch eine Erhebung in allen höheren Welten erzeugt. Chassidische Schriften benutzen die Analogie eines Hebels. Um eine schwere Last hochzuheben braucht man einen Hebel, mit dem man die Last von unten hochhebt. Obwohl der Hebel ganz unten an der Last angebracht ist, bewirkt er sogar das Anheben der höchsten Teile dieser Last. Ebenso ist es, wenn die „niederen Welten“ (Tachtonim) eine Dira (Wohnstätte) bauen: Dann offenbaren sie Atzmut in der Wohnstätte, was wiederum eine Erhöhung in all den höheren Welten hervorruft. Jetzt können wir verstehen, wie Engel und Seelen, die in höheren Welten wohnen, durch unsere Taten ganz und gar betroffen sind. Die Erschütterung der Mitzwot (physische Gebote), die in einer Welt voller Kelipot und Sitra Achra erfüllt werden, ist in diesen höheren Welten spürbar und ruft große Freude hervor. Daher bewirkt das Kadisch, dass man für eine verstorbene Seele sagt, eine Erhöhung dieser Seele. Die verstorbene Seele kann nicht mehr Mitzwot in dieser Welt vollbringen, aber wenn der Name G-ttes in dieser Welt durch einen lebenden Verwandten gepriesen und vergrößert wird, dann wird die Seele in der zukünftigen Welt sehr erhöht.

Im Midrasch gibt es eine Geschichte über einen König, der mit verschiedenen Ministern, Soldaten und Dienern in ein Land kam. Viele Zuschauer waren durch die überwältigende Gegenwart der Minister und Soldaten erstaunt. Ein kluger Mann unter den Zuschauern sagte jedoch: „Ich möchte nur den König sehen“. In dieser Welt sollten wir uns nicht durch die Verlockungen von Ehre oder Belohnungen ablenken lassen, selbst wenn sie spiritueller Natur sind. Unser einziges Ziel sollte sein: „Ich möchte nur den König“. Es ist ein sehr aufregendes Gefühl, durch diese Welt zu gehen und all das zu sehen, was sie uns zu bieten hat, und doch in seinem Herzen zu wissen, dass man in G-ttes Welt ist. Wenn man von diesem Selbstbewusstsein durchdrungen ist, dann kann man momentane Ablenkungen ignorieren, zurückweisen und auf G-ttes Anleitungsmanual, die Tora, als unsere Führung vertrauen. Der großartigste Sinn des Kabbala- und Chassidut-Studiums ist, dass es Geist, Herz, Verstand und Gefühle zum Angesicht G-ttes katapultiert. Wir wissen sehr wohl, dass G-tt oben steht, die ganze Welt erfüllt und des Menschen Herzen überprüft, um zu sehen, ob wir Ihm richtig dienen. Das großartigste Erlebnis für einen Menschen ist diese Verbindung. Sie ist ewig und schenkt uns wirkliches Leben.