Der Oberrabbiner Sir Jonathan Sacks studierte Philosophie an der Universität zu Cambridge und erzählte die folgende Geschichte: Nachdem er seine Studien abgeschlossen hatte, studierte er einige Zeit in einer Yeschiwa (Tora-Akademie) in Kfar Chabad / Israel. Er lernte einmal Chassidut mit einem jungen Mann, der in Kfar Chabad geboren und aufgewachsen war. Mitten im Lernen wandte sich der junge Mann zu seinem Lernpartner, dem Oberrabbiner, und sagte: „Weißt Du, was der Unterschied zwischen Dir und mir ist? Du denkst den ganzen Tag lang über G-tt nach, und ich denke den ganzen Tag über mich selbst nach!“

Der Oberrabbiner war von dieser Aussage etwas erstaunt. Er erwiderte: „Aber Du, der Du in diesem isolierten Chassidischen Dorf mit Glauben und Geschichten der Gerechten aufgewachsen bist, solltest den ganzen Tag an G-tt denken, und ich, der in den Hochburgen der säkularen Philosophie studiert habe, sollte den ganzen Tag über mich selbst nachdenken!“ Der junge Mann antwortete: „Du hast mich nicht verstanden. Da Du Philosophie an der Universität studiert und einen Abschluss darin gemacht hast, weißt Du, dass Du existierst. Deine einzige Frage ist, ob G-tt existiert, und daher denkst Du über G-tt den ganzen Tag nach. Da ich in Kfar Chabad aufgewachsen bin, weiß ich, dass es G-tt gibt. Meine einzige Frage ist, wo ich in dieses Bild hineinpasse und wie ich den Willen G-ttes erfülle. Daher denke ich den ganzen Tag über mich nach.“

Diese Geschichte verdeutlicht, was in der Kabbala als Daat Elyon (Himmlisches Wissen) und Daat Tachton (irdisches Wissen), oder einfacher ausgedrückt, die Perspektive von oben und der Blickwinkel von unten, beschrieben wird. Von G-ttes Perspektive aus gesehen existiert Er, und wir sind eine klitzekleine Manifestation Seiner G-ttlichen kreativen Energie. Das ist Daat Elyon. Sein Wissen um uns ist Sein Wissen um Ihn selbst. Von unserer Perspektive aus gesehen sind wir uns unserer Existenz und der Existenz der Welt sicher. Das ist Daat Tachton.

Wir wollen zunächst den Blickpunkt des Daat Elyon einnehmen. Wir haben beschrieben, wie unendliche Energie durch die Stufen der Kettenreaktion kondensiert wird, um die physische Welt zu erschaffen. Diese Energie ist verschiedentlich transformiert, gefiltert und kondensiert worden, bis sie eingekapselt die physische Welt schaffen und beleben kann. Albert Einstein lehrte: E=mc². Selbst wenn man die Quantenmechanik nicht versteht, kann man dieser Gleichung immerhin entnehmen, dass es eine Beziehung zwischen Energie und Masse gibt, und dass Masse eine Art der Energie ist. Man nehme zum Beispiel ein Glass. Woraus besteht ein Glass? Aus Silikon. Und was ist Silikon? Silikon ist ein Molekül-Konglomerat. Woraus bestehen Moleküle? Moleküle bestehen aus Atomen. Woraus bestehen Atome? Sie bestehen aus Protonen, Neutronen und Elektronen. Wenn man nun immer weiter die subatomischen Partikel untersucht, dann stellt man fest, dass die kleinsten Partikel mit der kleinsten Masse eine Art der Energie darstellen, und dass es eine Beziehung zwischen ihrer Masse und ihrer Energie gibt.

In der Kabbala wird diese Energie G-ttliche Kreative Energie genannt. Wenn man sich unsere Welt von dieser Perspektive betrachtet, dann ist die Vielfältigkeit der Schöpfung, die wir vom kleinsten Sandkorn bis zum größten Walfisch erkennen können, tatsächlich die Manifestation einer einheitlichen kreativen Kraft, die wir G-tt nennen. Der einzige Grund, warum wir diese Energie nicht in ihrer ursprünglichen Form wahrnehmen, besteht darin, dass sie mit vielfältigen Verhüllungen bedeckt ist, woraus sie eine scheinbar vielgestaltige Welt erschafft. Tatsächlich würden wir, wenn wir irgendein Gas, eine Flüssigkeit oder einen festen Gegenstand in seine sub-atomischen Bausteine zerlegen, die bloße, ihn belebende G-ttliche kreative Energie wahrnehmen.

Durch die Kabbala können wir die Spiritualität der Materie erkennen: In jedem Objekt wohnt eine „Seele“, durch die es erschaffen wurde, und es nun davor bewahrt, wieder in sein vorheriges Stadium des Nicht-Bestehens oder der Nichtigkeit zurückzukehren.

Dieser „Funken“ der G-ttlichkeit ist der wahre Kern und die tatsächliche Realität aller Dinge. Dieser Funke wird aufgedeckt und freigelassen, wenn Materie für einen heiligen Zweck im Einklang mit dem Willen des Schöpfers benutzt wird. Dies ist die Bedeutung des Gebetes Schema Yisrael. Wenn wir „Höre, Israel, der Ew-ge ist unser G-tt, der Ew-ge ist Einer“ sagen, dann ist das nicht nur eine Aussage, die den Monotheismus bestätigt. Es bedeutet außerdem, dass die ganze Welt um uns herum in all ihrer Unterschiedlichkeit die Schöpfung eines einheitlichen Wesens ist, das wir „G-tt“ nennen. G-tt weiß genau, was mit Seiner Schöpfung passiert, da Er jede Sekunde ein Etwas aus dem Nichts erschafft. Er kennt die Welt, da Er Sich Selbst kennt.

Wenn wir das Konzept der Einheit G-ttes weiterentwickeln, dann finden wir im jüdischen Gesetzeskodex folgende Anweisung: Wir sollen beim Sprechen des Gebetes Schema Yisrael daran denken, dass das Wort „Echad“ aus drei hebräischen Buchstaben besteht: Aleph, Chet und Dalet. Aleph entspricht der Nummer Eins und steht für den Einen G-tt. Dalet entspricht der Nummer Vier und steht für die vier Himmelsrichtungen. Chet entspricht der Nummer Acht und steht für die sieben Himmel und die Erde. Wenn wir Echad sagen, dann sollte man daran denken, dass Dalet (die vier Himmelsrichtungen) und Chet (die sieben Himmel und die Erde) alle von Echad – dem Einen G-tt – erschaffen sind.

In der Kabbala wird erklärt, dass die G-ttliche kreative Energie, die zuerst aus den zehn Äußerungen in Genesis hervorging, in den Formen der Buchstaben des hebräischen Alphabets konfiguriert ist. Jeder Buchstabe des Aleph Bet steht für eine bestimmte Energie-Konfiguration, die mit anderen kombiniert, die physische Form erschaffen kann. Das erklärt die Metapher in der Schöpfung: „Und G-tt sagte: Es werde Licht“. G-tt erschuf mit Hilfe der zehn Äußerungen, die im ersten Kapitel Genesis aufgeführt sind. „G-tt sagte: Es werde Licht“ ist keine antropomorphische Ausdrucksweise, sondern kann wörtlich interpretiert werden. Diese Aussage stellt eine Kondensation unendlicher Energie in die Kombination der Buchstaben Aleph, Waw und Reisch dar, die das Wort ‚Or’ (Licht) bilden. Die Buchstaben Aleph, Waw und Reisch beinhalten all die kreative Energie, die zur Erschaffung physischen Lichtes benötigt wird. Adam war mit der Schöpfung durch Buchstaben vertraut. Er benannte alle Kreaturen, indem er ihre geistige Quelle wahrnahm und ihnen Namen gab, die den Fluss der kreativen Energie, die in sie hineinfließt, beschrieben.

In der Sefer Yetzira wird die Schöpfung durch Buchstabenkombinationen erwähnt. Dort heißt es, dass ein Backstein ein Haus bauen kann, zwei Backsteine können zwei Häuser bauen, drei Backsteine bauen sechs Häuser, vier Backsteine bauen 24 Häuser usw. Die mathematische Formel ist einfach. Wenn man zwei Backsteine, z.B. Aleph und Bet hat, dann kann man zwei Häuser bauen. Das bedeutet, dass man sie entweder in der Reihenfolge Aleph, Bet oder Bet, Aleph aufschreiben kann. Wenn man drei Backsteine hat, dann gibt es sechs Kombinationsmöglichkeiten, mit denen man sechs Häuser bauen kann (3x2x1) Vier Buchstaben können 24 Häuser bauen (4x3x2x1). Die Anzahl der Häuser, die mit 22 Buchstaben gebaut werden kann, ist enorm. Wenn wir außerdem die Endbuchstaben und die Möglichkeit des Buchstabenaustausches, nämlich die At Basch (Austausch eines Aleph mit einem Taf und eines Bet mit einem Schin) in Erwägung ziehen, dann können sehr viele Häuser gebaut werden.

In der Sefer Yetzira lesen wir, dass die Welt durch 231 Tore erschaffen wurde. Diese Zahl erhält man, wenn man einfach einen Kreis aufzeichnet und das Aleph Bet um den Kreis herum schreibt. Wenn man dann das Aleph und das Gimmel durch eine Linie verbindet, und dann mit dem Dalet und so weiter mit allen Buchstaben, erhält man insgesamt 462 (22x21) Linien. Die 462 Linien, welche die 22 Buchstaben verbinden, werden die „231 Tore“ genannt (die Hälfte von 462 = 231, da zwei Linien jeweils ein Tor bilden). Das bedeutet ganz einfach: Das Tor der Schöpfung ist das Resultat von Buchstabenkombinationen, und diese stellen die G-ttlichen Kräfte dar.

Die ersten Kabbalisten lehrten, dass der Name „Israel“ eine Andeutung auf die 231 Tore darstellt. Im Hebräischen wird Israel als Yisrael geschrieben. Diese Buchstaben können auch YeSch RLA (es gibt 231). Denn der Zahlenwert der Buchstaben Reisch, Lamed und Aleph ist 231. In der Midrasch heißt es: Am Anfang der Schöpfung „tauchte Israel in den Gedanken auf“(Genesis Rabba 1:4). Mit dieser Aussage wird impliziert, dass G-tt während der Schöpfung der Welt zuerst über Israel nachdachte, bevor an die Tora dachte. Der Name Israel deutet demnach darauf hin, dass die Schöpfung der Welt durch diese 231 Tore stattfand. Einige Kabbalisten identifizieren diese 231 Tore mit den Reschimu (Rückständen) vom Tzimtzum (vgl. Kapitel 12: Tzimtzum). Die Rückstände stellen die Kraft dar, Endlichkeit zu erzeugen. Endliche Wesen wurden durch Buchstaben erschaffen. Diese Buchstaben wurden zu Worten kombiniert und in den zehn Äußerungen formuliert, mit denen G-tt die Welt durch die 231 Tore erschuf.

Die Sefer Yetzira beginnt damit, dass die Welt durch 32 Wege der Weisheit erschaffen wurde. Die Zahl 32 entspricht den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets und den 10 Sefirot. In der Kabbala wird die Sefira Malchut in der Welt des Atzilut der „Mund G-ttes“ genannt. Durch diesen Mund wurden die 10 Äußerungen der Schöpfung gesprochen, die im Buch Genesis beschrieben sind. Die Buchstabenkombinationen, die einen Fluss von den Sefirot darstellen, verbreiten sich im Laufe ihrer Tzimtzum (kettenhaften Weiterleitung). In jedem Stadium werden ihre Kräfte reduziert und kondensiert, bis sie physische Materie in dieser Welt erzeugen.

Der Baal Schem Tow, der Gründer der Chassidischen Bewegung, erläutert, dass die Worte, die G-tt verwendete, um die Welt zu erschaffen, nicht nur einmal ausgesprochen wurden, sondern die ganze Zeit wiederholt werden. Um es anders auszudrücken sind die zehn Äußerungen in Genesis nicht nur eine historische Begebenheit, sondern vielmehr eine andauernde Kraft. Sie repräsentieren die andauernd fließende G-ttliche Kraft, welche die ganze Schöpfung am Leben erhält. Wenn G-tt nur einen Moment lang der Welt diese Energie entzöge, dann würde die Welt aufhören zu existieren. Würde G-tt die Energie entziehen, die in diesen Buchstaben konfiguriert ist, würde Er also aufhören, die Worte „Es werde Licht“ zu sprechen, dann hörte auch das Licht auf, zu existieren.

Die folgende kurze Geschichte erläutert diesen Sachverhalt. Am Anfang der Chassidischen Bewegung entstand eine Gruppierung, die sich Mitnagdim (die ‚Gegner’ dieser Bewegung) nannten. Ein Chassid und ein Mitnagid diskutierten einmal miteinander. Der Chassid wollte durch eine hypothetischen Fragestellung vom Mitnagid wissen, wie G-tt den Tisch, an dem sie saßen, zerstören würde. Der Mitnagid antwortete, dass Er einen Feuerball vom Himmel herunterfallen ließe, durch den der Tisch verbrennen würde. Danach fragte der Chassid nach dem Verbleib der Asche. Der Mitnagid sagte, dass G-tt einen Tornado schicken könnte, der die Asche über die sieben Meere verstreue. „Was würde mit der Asche, die auf dem Wasser schwimmt, passieren?“ fragte der Chassid. Der Mitnagid hatte wieder eine Antwort parat: „G-tt ließe alle Fische des Meeres die Asche fressen“. Daraufhin rief der Chassid aus: “Aber die Asche ist dann immer noch in den Bäuchen der Fische!“ Da wusste der Mitnagid nicht mehr weiter und fragte ihn, was er dächte, wie der Tisch zerstört werden würde. Der Chassid antwortete: “Wenn G-tt den Tisch zerstören wollte, dann hörte Er einfach auf, ihn zu erschaffen!“ Daraus entnehmen wir, dass aus der Sicht des Chassid der Tisch nur das Produkt G-ttlicher kreativer Energie ist, die fortwährend in den Tisch zwecks seiner Erschaffung gepumpt wird. Will G-tt den Tisch zerstören, braucht Er dazu kein Medium, sondern Er beendet einfach den Fluss der kreativen Energie.

In der Chassidischen Lehre wird das Beispiel eines in die Luft geworfenen Balles angeführt. Durch die natürliche Schwerkraft fällt jedes Objekt, das in die Luft geworfen wird, zur Erde zurück. Der einzige Grund aber, warum der Ball in die Luft fliegt, ist jene kinetische Kraft, die stärker als die entgegengesetzte Schwerkraft ist. Sobald aber diese kinetische Kraft aufgebraucht ist, wird der Ball langsamer und fällt schließlich zur Erde zurück. Ebenso ist die einzige, Materie erschaffende Kraft, die G-ttliche kreative Energie. Wird diese Energie entzogen, dann kehrt die Erde wieder zum Stadium des Nichtseins zurück.

In der Ausdrucksweise des Daat Elyon (G-ttliches Wissen) ist die Welt daher nur eine Manifestation des permanenten Flusses G-ttlicher kreativer Energie. G-tt kann diese Energie der Welt jederzeit vorenthalten. Unsere ganze materielle Existenz ist ganz und gar von G-tt abhängig. G-tt ist jedoch total unabhängig von der Schöpfung.

Zudem ist alle Energie, die G-tt zur Erschaffung des Kosmos aufwendet, nur ein minimaler Teil Seiner Unendlichen Kraft. Ausgehend von den vorhergehenden Kapiteln, können wir nun einen meditativen Prozess beginnen, um die Größe des Schöpfers besser zu verstehen. Zuerst betrachten wir die wunderbare physische Welt. Wir nehmen wahr, wie G-tt Seine Herrlichkeit in dieser Welt bekleidet hat. Wir sehen dann, dass alles auf dieser Welt durch die Sterne, und diese wiederum durch die Engel in der Welt der Yetzira (Formation), beeinflusst wird. Wir denken über den Dienst der Engel nach, in dem sie ganz und gar selbstverleugnet vor G-tt stehen. Wir steigen dann zur Welt der Beria (Schöpfung), der Welt des Thrones auf, bis wir dann in Ehrfurcht in der Welt des Atzilut (Emanation) stehen. Danach können wir darüber nachdenken, dass sogar die höchste Ebene im Atzilut dem Licht des Memale Kol Almin entspricht, d.h. nur einem Bruchteil des Lichts des Or Ein Sof (Licht des Unendlichen). Solch eine Meditation bringt uns ins Angesicht des Atzmut Ein Sof (Wesens des Lichtes des Unendlichen).

Die Männer der Grossen Versammlung strukturierten unsere täglichen Gebete so, dass sie dieser Meditation entsprechen. Zuerst sagen wir die Morgen-Segenssprüche, in denen wir G-tt für unsere täglichen Körperfunktionen danken. Dann rezitieren wir die Passagen der Korbanot (Opfer), durch die wir ausdrücken, dass wir unsere Nefesch HaBehamit (animalistische Seele in uns) als Korban darbringen sollen, das mit feuriger G-ttesliebe vertilgt wird. Danach sagen wir die Pesukei D’Simra (Preisgesänge), die G-ttes Erhabenheit in der Welt beschreiben. Nun steigen wir zur Welt der Yetzira, die den G-ttesdienst der Engel darstellt, auf. Wenn wir das Schema sagen und über die Einheit G-ttes nachdenken, dann haben wir uns zur Welt der Beria (Schöpfung) erhoben. Schließlich stehen wir in Ehrfurcht für die Amida (stehendes Gebet) in der Welt der Atzilut (Emanation). Wir können dann weiterhin darüber nachdenken, dass die Welt der Atzilut sich im post-Tzimtzum (Kettenreaktion der Schöpfung) Stadium befindet, obwohl vor der Tzimtzum das Or Ein Sof allein Bestand hatte. In dieser Phase stehen wir wie Kinder, die ihre Bitten vortragen. Wir bitten G-tt, dass Er uns Ernährung geben soll, damit wir unsere Aufgabe in der Schöpfung erfüllen können: „Damit wir das Physische mit G-ttlichem Sinn erfüllen und für G-tt eine Wohnstatt in dieser Welt bilden.“

DIE LEITER DES GEBETS

Morgendlicher G-ttesdienst

Ebene der Schöpfung

Amida

Atzilut (Welt der Emanation)

Schema Yisrael

Beria (Welt der Schöpfung)

Dienst der Engel

Yetzira (Welt der Formation)

Pesukei D'Simra

Assiya (Welt der Tat)

Korbanot (Liturgie über die Opfer)

Nefesch HaBehamit (Tierische Seele)

An dieser Stelle beginnen wir dann unseren Abstieg oder Wiedereinstieg in diese Welt. Wir sagen zuerst Tachanun (ein Bußgebet). Weil wir G-tt so nahe gekommen sind, bereuen wir wirklich unsere Sünden und Beschäftigung mit Nichtigkeiten. Daher bemühen wir uns hier, uns zu ändern. Wir praktizieren Teschuwa (Rückkehr zu G-tt) durch die Bitten des Tachanun-Gebets. Wir fahren mit dem Gebet fort, das im Aleinu kulminiert, wo wir unseren Wunsch und unser Gebet vorbringen, dass diese Welt wieder durch das Königreich G-ttes beherrscht werden möge. Der wahre Mystiker macht sich keine Gedanken darüber, ob er geistige Höhen erreicht, sondern will vielmehr aus seinen spirituellen Erfahrungen lernen, um diese Erkenntnisse in seinen tagtäglichen Interaktionen mit der Welt anzuwenden.

Wir sehen nun, wie wichtig es ist, dass die Kettenordnung der Schöpfung und ihre tiefgreifende Manifestation in der Meditation zu erkennen. Denken wir darüber nach, dass wir am Anfang der Schöpfungsleiter stehen und schauen zur Leiter hinauf, dann fühlen wir uns ganz und gar unwichtig in Anbetracht des Or Ein Sof. Gleichzeitig werden wir aber auch durch den Gedanken sehr froh, dass wir ein Teil des Sinnes der Schöpfung sind. Wir vergleichen uns mit einem Staubkorn im Kosmos, das im Gesamtbild unersetzlich ist. Solch eine Meditation macht die Menschen sehr bescheiden. Sie gibt ihnen das Ziel, ihre Aufgabe auf dieser Welt zu erfüllen (vgl. Kapitel 11: „Die Leiter“).

Wenn wir über das Prinzip der andauernden Schöpfung nachdenken, dann bemerken wir G-ttes Nähe. Die Welt ist nicht mehr ein Ort, der gestern bestand und auch morgen bestehen wird, sondern ist eine tagtäglich neue Schöpfung. Es gibt einen Grund, warum G-tt die Welt jeden Tag neu erschafft, und Er hat uns diesen Grund mitgeteilt. Er ist der Allmächtige, von dem wir alle ganz und gar abhängig sind. Er lenkt die Angelegenheiten der Menschheit.

Dies führt uns zum Prinzip der Haschgacha Pratit (G-ttlichen Vorsehung). Der Baal Schem Tow wich von anderen jüdischen Philosophen ab, als er lehrte, dass die G-ttliche Vorsehung sogar die unbelebte Welt betrifft. Er lehrte, dass die G-ttliche Vorsehung sogar dann im Spiel ist, wenn ein Blatt auf der Strasse herumgewirbelt wird. Das ist im Einklang mit dem ersten Prinzip des Baal Schem Tow. Es besagt, dass G-tt in jeder Sekunde des Tages die Natur und die Welt aus dem Nichts erschafft. Das bedeutet: Nichts ist zufällig! Eine Art und Weise, G-tt zu dienen, besteht darin, dieses Prinzip in unserem tagtäglichen Leben zu erkennen. Wir sind nicht die Opfer des Zufalls. Wir werden vielmehr von Oben geführt, wie wir es in unserem täglichen Morgengebet sagen: „G-tt lenkt die Schritte des Menschen“. Egal wo wir uns befinden, - es ist unsere Aufgabe, diesen Ort zu G-ttes Wohnstätte zu machen.

Daraus folgt, dass auch dann, wenn etwas nicht planmäßig läuft, dies allein G-ttes Wille ist. Trotz unserer Frustration müssen wir uns darum bemühen, in allem stets G-ttes Wille zu erkennen. Im Talmud steht geschrieben, dass Ärger mit Götzendienst verglichen werden kann. Rabbiner Schneur Salman erklärt in seinem Werk Tanja, wie Menschen ärgerlich werden, wenn sie über eine unerwartete Begebenheit frustriert und enttäuscht sind. Erkennen wir also nicht, dass diese unerwartete Begebenheit von Oben kommt, so betreiben wir Götzendienst. Ein wahrhaft Gläubiger versteht – um es mit dem Talmud auszudrücken - „Alles, das geschieht kommt von G-ttes Hand, außer der Ehrfurcht vor G-tt“. Alles, das geschieht, ist von Oben bestimmt, außer unserer Reaktion auf die gegebenen Umstände. Diese unsere Reaktion ist Teil unserer Willens- und Entscheidungsfreiheit.