Rom, den 28. September 2003, 3 Uhr 15 morgens
Mein Jüngster wacht auf und schreit, er hat eine schlimme Erkältung und fühlt sich recht miserabel. Als ich ihn verschlafen halte, und versuche, ihn zu trösten, beginnt es draußen zu regnen; ein paar Minuten später geht das Licht aus. Ich stelle fest, dass kein knackendes Geräusch zu hören war, das einen Kurzschluss in unserer Wohnung angezeigt hätte; da auch kein Licht von der Strasse und den umliegenden Häusern kommt, nehme ich an, dass aufgrund des Regens die Lichter ausgegangen sind (in dieser Stadt kann das vorkommen). Warum auch immer, es ist wahrlich pechschwarz, ich kann nichts sehen, ich halte meinen Sohn in meinen Armen aber kann ihn nicht sehen. Ich beginne zu verstehen, was die Ägypter während der Plage der Dunkelheit fühlen mussten.
Die Dunkelheit lässt meinen Sohn weinen „la, la“ (Licht, Licht!), und mein Mann kämpft sich durch die unbekannte pechschwarze Dunkelheit in die Küche durch, wo er eine Kerze findet und an dem Feuer entzündet, das wir am Herd angelassen haben, um am Feiertag kochen zu können. Als mein Mann diese eine Kerze in unser Zimmer bringt, wird der gesamte Raum erleuchtet, und die G-ttlichen Worte „und es war Licht“ bekommen neue Bedeutung.
Mein Sohn beruhigt sich und ist im Begriff wieder einzuschlafen. Als ich ihn in meinen Armen wiege, schaue ich auf die Kerze, auf das Licht, welches sie hervorbringt, und bemerke ihren Schein und wie diese kleine, flackernde Flamme die Macht hat, so viel Licht herzustellen. Wo ein paar Momente zuvor Furcht und Beunruhigung regierten, brachte die Kerze nun Frieden und Ruhe. Ich erinnere mich an den Ausspruch unserer Gelehrten „Me’at or docheh harbeh choshech“ – wenig Licht vertreibt viel Finsternis. Wenn nur jede und jeder von uns ein kleines Bisschen Licht herstellen würde, durch das Tun einer guten Tat, irgendeiner guten Tat, wir würden einen großen Teil der Dunkelheit, die unsere Welt verfinstert, vertreiben.
Mein letzter Gedanke bevor ich wieder einschlafe ist, dass ich froh bin, dass die Lichter zu Rosch Haschana ausgegangen sind. Es gibt mir das Gefühl, zu einem uranfänglichem Zustand der Dinge zurückzukehren, und ich empfinde es als so passend, dass es an diesem Tag geschah.
9 Uhr 30 morgens
Die Lichter sind noch nicht angegangen und ich beginne mir Sorgen zu machen über die Menge feinen Gefillten Fisch, den ich liebevoll vorbereitet habe, und der für die Feiertage im Gefrierfach liegt. Der Sicherheitsmann, der die Synagoge in unserem Haus zu bewachen hat, kommt und erzählt uns, dass der Stromausfall ganz Italien betrifft. Ich bin überrascht und schockiert, doch irgendwie berührt mich diese Neuigkeit nicht tief. Ich fühle mich wie auf einem anderen Planeten, in einer anderen Zeit. Erstmals seit langem fühle ich wahrhaft Rosch Haschana. Bar all der Technologie, nur G-ttes natürliches Licht zum Erhellen unseres bewölkten Tages, fühle ich mich verbundener denn je.
Ich mache mir Sorgen, dass Leute vielleicht einen Terroranschlag fürchten und nicht in die Synagoge kommen würden. G-tt sein Dank waren meine Ängste unbegründet. Spätestens um halb Zwölf ist alles bis auf den letzten Platz voll und überfüllt; über 50 Männer, Frauen und Kinder, Leute mit allerlei verschiedenen Lebenswegen, sind zu Rosch Haschana in unsere junge Gemeinde gekommen. Interessanterweise spricht niemand über den Stromausfall, man spricht überhaupt nicht, alle konzentrieren sich auf den Ablauf des Tages. Mir kommt vor, dass alle so fühlen wie ich – als wären sie in einer anderen Welt, entfernt von den weltlichen Dingen des Tages.
11 Uhr 55 vormittag
Als wir uns auf das Schofar-Blasen vorbereiten, gehen die Lichter wieder an.
Das Blasen des Schofars symbolisiert, unter anderem, unsere Krönung von G-tt zum König. Zu Rosch Haschana wählt G-tt, die Welt wieder zu erschaffen und gibt ihr erneuerte Lebenskraft; gleichzeitig anerkennen und akzeptieren wir Menschen G-ttes Herrschaft über uns indem wir den Schofar blasen.
Als die Lichter wieder angingen, rasten meine Gedanken. Wie wundervoll, dass der Stromausfall nicht etwa einen Monat früher stattgefunden hat, während der nie dagewesenen glühenden Hitzewelle, die unser Land damals plagte! Wäre es damals geschehen, welch unvorstellbare Zerstörung hätte es bedeutet für Menschen, Tiere, Nahrung ... Doch G-tt schickte uns den Stromausfall zu Rosch Haschana, an einem verregneten kühlen Sonntag, an dem die meisten Geschäfte geschlossen waren, solcherart den Schaden dramatisch begrenzend, und uns daran erinnernd, was das wirklich Wichtige ist.
In den Gebeten von Rosch Haschana bitten wir G-tt um Gesundheit, Wohlstand und Freude, damit wir Ihm besser dienen können. Was geben wir zurück? Jener Rosch Haschana lehrte mich, dass das grösste Geschenk, das wir Ihm – und uns – machen können, diese kleine Tat ist: Das kleine Bisschen Licht, welches viel Dunkelheit vertreibt.
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