Beim Propheten Jesaja finden wir den Ausspruch „suchet G-tt dann, wenn Er zu finden ist". Die Gelehrten des Talmud erklärten, dass sich dieser Satz auf die „zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur" bezieht. Denn diese zehn Tage, die in ganz besonderer Weise unserer Umkehr zu G-tt gewidmet sind, sind durch eine Nähe G-ttes charakterisiert, die bewirkt, dass wir „Ihn finden können" - und zwar ohne Schwierigkeiten, vorausgesetzt, dass wir es ernsthaft wollen.

Nun wirft die Formulierung unserer Gelehrten eine Frage auf: Warum heißt es „zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur", wenn doch in Wirklichkeit die Tage dazwischen nur sieben sind? Zehn Tage sind es inklusive der Feiertage - aber doch nicht dazwischen!

Vielleicht will jemand annehmen, dass man sich eben ein bisschen ungenau ausgedrückt hat, aber so einfach ist das nicht, denn die Sprache des Talmud ist sehr präzise.

Der Lubawitscher Rebbe hat dazu eine Erklärung gegeben, die nicht nur das sprachliche Problem löst, sondern auch eine wichtige Lehre über das Wesen von Rosch Haschana und Jom Kippur enthält.

Diese scheinbar widersprüchliche Formulierung „zehn Tage" einerseits und „die Tage dazwischen" andererseits, heißt nichts anderes als dass beides vorliegt. Es gibt „zehn Tage" - nämlich zehn Tage der Tschuwa (Umkehr). Und es gibt einen Unterschied zwischen den Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur einerseits und den „normalen" Tagen der Tschuwa andererseits.

Was ist der Unterschied?

Bereits Tschuwa - die Umkehr zu G-tt - ist eine ganz besondere Sache, die weiter reicht als alle herkömmlichen Gebote. Wenn jemand wirklich aufrichtig Tschuwa tut, kann er oder sie damit korrigieren, was vorher falsch gelaufen ist. Wenn man verabsäumt hat ein Gebot zu erfüllen, oder gar ein Verbot übertreten hat, kann Tschuwa das Versäumnis bzw. den Schaden der Übertretung wiedergutmachen. - Natürlich immer vorausgesetzt, dass man es mit der Umkehr auch ganz ernst meint, und fest entschlossen ist, es künftig besser zu machen.

Das heißt also, dass Tschuwa spirituell höher steht als alle Gebote - sonst könnte sie ja nicht korrigierend wirken.

Doch obwohl bereits Tschuwa eine so außergewöhnlich hochstehende Sache ist, gibt es noch etwas darüber: Das Wesen der Feiertage Rosch Haschana und Jom Kippur geht sogar über Tschuwa noch hinaus. Denn Rosch Haschana steht am Beginn der „zehn Tage", also ist das, was dann kommt zunächst einmal vom besonderen Charakter von Rosch Haschana abhängig.

Was ist das besondere Ereignis, das Rosch Haschana auszeichnet? Es ist die Krönung G-ttes zum König über die Welt. Jedes Jahr zu Rosch Haschana bitten wir G-tt erneut, wieder für das kommende Jahr unser König zu sein. Diese Krönung G-ttes zum König über die Welt erreicht spirituell sogar eine noch höhere Ebene als Tschuwa. Sie ist die Voraussetzung für alles, was nachher kommt. Bevor wir G-tt nicht als unseren König akzeptiert haben, stellt sich ja die Frage nach Geboten und Verboten gar nicht! Erst wenn der König gekrönt ist, kann es auch Anweisungen des Königs geben.

Das Schofarblasen - mehr als ein Gebot

Wir finden diese drei Ebenen - die Gebote, Tschuwa, und die Krönung G-ttes zum König - auch im Zusammenhang mit dem Schofarblasen.

Zunächst ist das Schofarblasen ein Gebot, das wir ausführen, weil es so in der Tora steht. Der große jüdische Philosoph des Mittelalters, Maimonides, erklärt in einem seiner Werke jedoch, dass das Schofarblasen nicht nur ein Gebot ist, sondern darüber hinaus noch einen Hinweis enthält. Nämlich einen Hinweis darauf, dass wir Tschuwa machen, zu G-tt umkehren, sollen. Der durchdringende Klang des Schofars rüttelt uns auf und erinnert uns daran, dass wir Tschuwa tun müssen.

Zusätzlich erinnert das Schofar auch an die Trompeten, die üblicherweise bei der Krönung eines Königs zum Einsatz kommen. Natürlich findet diese „Krönung" nicht einfach wegen des Schofarklanges statt. Voraussetzung ist vielmehr, dass wir unser eigenes egoistisches Selbst völlig G-tt, dem König, unterordnen. Das Schofarblasen jedoch ist das Mittel, mit dem wir diese völlige Annahme von G-ttes Königsherrschaft zum Ausdruck bringen.