Vom Alter Rebbe, Rabbi Schneur Salman, dem Gründer der Chabad-Chassidim, wird eine Geschichte erzählt, die von einem Chassiden handelt, der Verleger war. Er wollte Bücher über die Torah drucken und veröffentlichen, aber dafür brauchte er die Genehmigung des Kultusministeriums. Darüber machte er sich große Sorgen, denn die Regierung war den Juden nicht wohlgesonnen und lehnte es erst recht ab, jüdische Literatur oder jüdische Lehren zu verbreiten. Darum ging der Verleger zum Alter Rebbe, um sich segnen und beraten zu lassen.
Der Rebbe wies ihn an, nach Wilna zu reisen und dort mit einem Mann zu sprechen, der Kinder unterrichtete. Der Verleger war verdutzt, denn das Ministerium befand sich nicht in Wilna, sondern in St. Petersburg und der Lehrer war ein einfacher, gewöhnlicher Mensch ohne besondere politische Einsicht und ohne Beziehungen. Dennoch fuhr er nach Wilna, weil der Rebbe ihn dorthin geschickt hatte. Er suchte den Lehrer auf, der ebenfalls erstaunt war. „Ich habe keine Ahnung“, sagte er, „warum der Rebbe dich zu mir geschickt hat. Ich bin ein einfacher Mensch und habe nichts mit Politik zu tun. Und ich habe auch keine wichtigen Beziehungen.“
Beide gingen zu einem Chassiden, der in der Stadt eine gewisse Autorität besaß. Er hatte einige politische Beziehungen, aber auch er wusste nicht, warum der Rebbe den Verleger nach Wilna geschickt hatte. Aber da alle drei Männer Chassidim waren, entschieden sie, dass dies der richtige Ort für den Verleger sein musste. Irgendwann würde er schon erfahren, was der Rebbe sich dabei gedacht hatte.
Nach einigen Tagen standen die drei auf der Straße, als ein Fremder vorbeikam. Nach seinem Aussehen und Benehmen zu schließen, handelte es sich um einen Adligen. Er blieb stehen, schaute den Lehrer an und sagte: „Ich möchte dich morgen treffen. Würdest du bitte in mein Hotel kommen?“
Am folgenden Tag ging der Lehrer ins Hotel, und der Adlige fragte ihn: „Kennst du mich nicht mehr?“
„Nein“, erwiderte der Lehrer. Der Adlige fuhr fort: „Erinnerst du dich an die Stadt X, in der du als Kind lebtest?“ Der Lehrer starrte ihn an. „Ja, natürlich. Aber woher wisst Ihr das?“
Der Fremde erzählte: „In deiner Stadt lebte ein Waisenjunge, und die Leute in der Stadt taten alles, um das Kind aufzuziehen und ihm zu helfen. Aber der Junge war aufsässig und verstieß gegen die Torah und die jüdische Lebensweise. Eines Tages wurde er dafür öffentlich bestraft und gedemütigt. Man fesselte ihn, und die Passanten verspotteten ihn. Dann kam jemand und befreite ihn, so dass er weglaufen konnte. Erinnerst du dich?“
„Ja“, antwortete der Lehrer, denn er selbst hatte diesen Jungen befreit. Nun gab der Fremde zu, er sei dieser Junge gewesen, und er sagte: „Mein Leben lang war ich dir dankbar und wollte dir deine Güte vergelten. Aber ich wusste nicht, wo du warst, bis ich dich gestern zufällig sah. Ich kann dir helfen, denn ich bin sehr reich und möchte dich für deine Hilfe belohnen. Ich habe ein hohes Regierungsamt – ich bin der Kultusminister.“
Als der Lehrer diese Worte hörte, fiel er fast vom Stuhl. Er erwiderte: „Ich danke Euch vielmals für Eurer Angebot, aber ich habe Euch nicht geholfen, um dafür Geld zu bekommen. Doch ich möchte Euch eine kleine Geschichte darüber erzählen, wie wir uns gestern ,zufällig’ getroffen haben.“ Er berichtete, der Alter Rebbe habe jemanden, der eine Bewilligung vom Kultusministerium brauchte, aus einem unerklärlichen Grund zu ihm nach Wilna geschickt. Jetzt sei ihm der Rat des Rebbe klar. „Der größte Gefallen, den Ihr mir erweisen könnt“, sagte er, „ist, diesem Mann eine Druckerlaubnis zu erteilen.“
Die große Einsicht des Alter Rebbe verblüffte die Männer. Offensichtlich hatte der Rebbe gewusst, dass der Kultusminister nach Wilna reisen werde und dass er dem Lehrer etwas schuldete. Darum hatte er den Verleger nach Wilna geschickt, um den Lehrer zu treffen. Der Rebbe hatte also nicht nur in die Zukunft geschaut, sondern auch in die Vergangenheit: Er wusste, wo der Minister sein würde, und er kannte die Geschichte von dem Jungen, den der Lehrer befreit hatte.
ב"ה
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