Nigun: Nomen; Plural: Nigunim; eine Melodie aus kabbalistischer/chassidischer Tradition, in der Regel ohne Worte. Wird als Weg zu höherem Bewusstsein und Veränderung des Selbst betrachtet.

„Wenn Worte der Schreibstift des Herzens sind“, lehrte Rebbe Schneor Salman von Liadi, „dann ist Singen der Schreibstift der Seele“. Allerdings schreibt der Stift der Seele in die andere Richtung als der des Herzens. Währendem Worte das g-ttliche Licht in unsere Welt hinuntertragen und durch die Gedanken unserer Weisen und die Lippen der Propheten Form erhalten, trägt Singen die Seele hinauf, um im unendlichen Licht absorbiert zu werden.

Deshalb haben Nigunim in der Regel keinen Text. Worte begrenzen und definieren, aber der Nigun sprengt die Grenzen der Seele. Über Worte hinaus.

Ein Zaddik (ein „gerechter Mensch“) ist jemand, der Herr seiner Triebe ist und eine höhere Ebene des Seins erlangt hat. In einem Nigun verschlüsselt der Zaddik seine Seele. Wenn wir den Nigun eines Zaddiks singen, verbinden wir uns mit den inneren Gewändern seiner Seele und vereinigen uns mit dem Licht, das der Zaddik gefunden hat.

Deshalb muss jeder Ton und jede Nuance eines Niguns stimmen. Wie die Worte eines heiligen Textes, müssen sie gelernt und ursprungsgetreu wiedergegeben werden. Denn der Geist und die Seele des Zaddiks sind in ihnen enthalten.

Die Teile eines Niguns nennt man „Tore“ – Übergänge von einer spirituellen Welt zu einer höheren. Jedes einzelne benötigt nicht nur neues Atemholen, sondern auch eine neue Bewusstseinsebene. Der fünfte Lubawitscher Rebbe, Rebbe Scholom Dov Bär, lehrte: „Durch jedes Tor muss man zweimal hindurch. Das erste Mal entsteht eine Form, das zweite Mal hinterlässt einen tiefen Abdruck in der Seele.“

Deshalb muss man sich bei einem Nigun immer Zeit lassen. Das Tempo, das Schweigen, das Innehalten – alles muss beibehalten werden, damit der Nigun zu unseren tiefsten Schichten durchdringen kann.

Der heilige Rebbe Rabbi Josef Jizchak von Lubawitsch lehrte: „Ein Nigun öffnet Fenster in der Seele.“ Zuerst bedarf es einer tiefen Kontemplation, die den Geist auf die Einheit des Kosmos mit seinem Schöpfer richtet. Es gilt diese Einheit in jeder Sache zu sehen, bis zu dem Punkt, wo sie reeller empfunden werden kann als das Gefühl des eigenen Selbst. Aber die Kontemplation mag im Bereich des kühlen Verstandes eingefroren bleiben. Durch den Nigun ergiesst sich das, was tief in der Seele gefangen ist, in den Verstand und vom Verstand zum Herzen. Meditation mag den Verstand erleuchten, ein Nigun jedoch kann dein ganzes Sein verändern und erheben.

Deshalb sangen einst die Propheten und spielten Musik als sie auf die Eingebung einer Prophezeiung warteten. So entledigten sie sich der Begrenzung von Körper und Intellekt, um sich auf das Hindurchfliessen des Unendlichen Lichts vorzubereiten. Nicht nur um der Transzendenz willen, sondern um diese Transzendenz zur Erde herunterzuziehen - um die Herzen der Menschheit für die inneren Wahrheiten des Lebens auf der Erde zu wecken.

„Singen“, schrieb der zweite Lubawitscher Rebbe, Rabbi Dov Bär, „bringt das Innerste des Lebens zum Ausdruck; seine Quelle entspringt einer überirdischen Freude“. Und er erklärte:

Ein Fluss ging aus von Eden, den Garten zu bewässern ...“ (Bereschit 2:10): Vom Ursprung aller Freude fliesst der Fluss des Lebens abwärts, sich in jede Welt und jedes erschaffene Wesen verzweigend. Jedes Wesen dürstet danach, sich mit seinem Ursprung oben zu vereinigen, und von diesem Sehnen kommt sein Singen und mit diesem Singen wird es lebendig. Die Himmel singen, die Sonne, die Planeten und der Mond; jedes Tier, jede Pflanze, jeder Fels hat sein eigenes Singen, jeweils gemäss der Art, wie es das Leben empfängt. Bis der gesamte Kosmos in einer Symphonie von unzähligen Engeln und Seelen und Tieren und Pflanzen, ja sogar von jedem Wassertropfen und jedem Molekül der Luft pulsiert, alle das Lied singend, das Leben gibt.

Deshalb bringt ein Nigun einen Hauch von neuem Leben und Heilung, ein Hauch, der die bitteren Seelen versüsst und das Leben mit Licht füllt, wie die Lieder, die David für König Saul sang, und die seine Bitterkeit vertrieben.

Ein Lied ist Eins-Sein. Ein Lied dreht sich um sich selbst in einem Kreislauf von Eins-Sein, bis es weder Anfang noch Ende mehr hat. Und, wie der dritte Rebbe von Chabad, Rabbi Menachem Mendel von Lubawitsch (1789-1866), lehrte: Singen vereinigt. Wenn Worte gesprochen werden, hören wir jedes der Worte gemäss unserem Verständnis. Aber im Singen sind wir alle in einem Rhytmus und in einer Melodie vereinigt.

Über die messianische Zeit heisst es: „Dann wird die ganze Welt ein neues Lied singen“, denn dann wird ein Lied, das unser Eins-Sein zum Ausdruck bringt, in der ganzen Welt widerhallen.