Wie viel Zeit vergeht vom Moment an, wo du einen Bissen in den Mund steckst und er zu Brei wird, der langsam seinen Weg durch die Speiseröhre nimmt um den Verdauungsprozess zu durchlaufen? Ich schätze vielleicht fünf bis zehn Sekunden.

Wie viel Zeit und Energie bringen wir auf, um diese flüchtigen fünf Sekunden zu befriedigen – den kurzen Moment, den es braucht bis jedes Essen, sei es noch so delikat, in unserer Speiseröhre gleich geworden ist? Wie viele Trillionen Dollar werden von der Nahrungsmittelindustrie investiert um diese kurzen Sekunden zu befriedigen?

Das waren einige der Gedanken, die durch meinen Kopf gingen, als ich in einem eleganten koscheren Restaurant in Midtown Manhattan sass. Ich weiss, dass dies etwas masochistisch klingen mag – so zu denken während dem ich gerade ein saftiges Stück Steak hinunter schlucke, nachdem soeben ein Sushi auf meiner Zunge zerging. Nun, so war ich eben aufgelegt – oder programmiert. Nicht etwa dass ich unter erheblichen Schuldgefühlen leiden würde, nein, das ist nicht mein Problem. Es ist einfach so, dass ich immer auch die einfachsten Erfahrungen überanalysieren muss.

Die gleichen Gedanken tauchten wieder während eines festlichen Purim-Mahls auf, als ich an einem feinen Wein nippte und ein Stück vorzügliches Kalbskotelett genoss.

Das Judentum macht so ein grosses Getue ums Essen, dass man sich fragen muss, ob dies nicht der Grund dafür ist, dass heute viele jüdische Menschen ihre Tradition für spirituell irrelevant und moralisch bankrott halten. Hamentaschen und Kreplach zu Purim. Latkes zu Chanukka. Blintzes zu Schawuot. Apfel mit Honig zu Rosch Haschana. Sogar am Jom Kippur – dem heiligsten Tag des Jahres – geht’s um Essen: Es ist ein Fasttag; wir sind darauf fixiert nicht zu essen. Und am Tag vor Jom Kippur sollen wir dafür gleich doppelt so viel essen! Dann ist da natürlich Pessach, mit seinem eigenen Menüplan und Spezialitäten, die über Generationen innerhalb einer Familie weitergegeben werden.

Anscheinend gibt es da für jeden Feiertag ein anderes Essen ...

Was hat es mit dieser jüdischen Obsession über Essen und Gastronomie auf sich? Was ist so spirituell an einem üppigen Mahl? Was ist an Küche so bedeutsam und ewig – und das für Essen das grad mal fünf Sekunden anhält, bevor es in den Verdauungsprozess einsteigen befördert wird?

Purim wird spezifisch durch seine spezielle Mahlzeit definiert, durch die Se`udat Purim. Die Megilla stellt ausdrücklich fest, dass dieser Feiertag mit einer Mischte, einer festlichen Party zu begehen ist. Wir schicken Freunden Geschenke mit Essen, Mischloach Manot. Und natürlich sagen wir „LeChaim“, auf erlesenen Wein oder Wodka. Tatsächlich erklärt der „Lewusch“, dass Chanukka das Fest der Seele ist. Purim ist das Fest des Körpers. Daher wird Chanukka durch das Anzünden von Lichtern begangen – Licht repräsentiert den Geist, man feiert den geistigen Sieg des Jüdischen Volkes über die Griechen, welche ihre Seelen vernichten wollten, nicht ihre Körper. Purim andererseits feiert den Sieg über Haman der sie physisch vernichten wollte. Daher feiern wir, indem wir unsere Körper ernähren.

Es gibt ein wunderschönes Gleichnis des Baal Schem Tow, welches diese Sache mit dem Essen und Trinken erklärt:

Ein König bereitete sein Kind vor, den Thron zu erben. Damit der Sohn eines Tages ein einfühlsamer Führer sein würde, beschloss der König, ihn von zu Hause weg zu schicken. Denn der König erkannte, dass das Kind in seinem Palast in angenehmer Umgebung isoliert und beschützt war. Der Sohn wurde verdorben von all dem Reichtum und all der Dienerschaft, die sich um all seine Bedürfnisse kümmerte. Der bequeme Palast behinderte sein Wachsen und erlaubte ihm nicht zu zeigen, was wirklich in ihm steckte. Um ein großer Führer zu werden – so wusste der König – war es notwendig, ihn aus dem Palast weg zu schicken, so schmerzhaft dies auch war, und ihn unter dem gemeinen Volk, den Untertanen, wohnen zu lassen. Das würde ihm ermöglichen, seinen Weg als mitfühlenden und geeigneten Führer zu finden.

Der traurige Tag kommt. Als der König sich von seinem weinenden Sohn verabschiedet, verspricht er ihm, mit ihm in Kontakt zu bleiben, und auch, dass in den allerschwierigsten Zeiten der Sohn immer die Möglichkeit haben wird, seinen Vater, den König, zu erreichen.

Und so war es. Der Sohn wird in ein entferntes Land geschickt, wo ihn niemand erkennt. Er muss lernen, seinen eigenen Weg zu finden und sich ohne Beziehungen durchzusetzen. Mit der Zeit vergisst der Sohn nach und nach seine Vergangenheit und den Grund seiner Reise.

Doch der weise König sah voraus, was geschehen würde. Ihm war klar, dass sein Sohn mit der Zeit seine Wurzeln vergessen würde, wenn er sich an die Art des fremden Landes, in dem er nun wohnt, anpasst. Um dem entgegenzuwirken, schickt ihm der König mehrmals im Jahr einen Brief, in dem er ihn erinnert: „Ich bin dein Vater, der König. Du wurdest in dieses ferne Land geschickt, um dich darauf vorzubereiten, ein großer Führer dieser Nation zu sein. Vergiss das niemals!“

Wenn der Sohn diesen Brief erhält, ist er ekstatisch und will feiern. Er erinnert sich an den Palast und sein zu Hause. Er vergegenwärtigt sich den Zweck seiner Aufgabe in diesem fremden Land.

Er hat ein großes Bedürfnis, zu feiern und allen Nachbarn den wahren Grund seines Kommens kundzutun. Aber er besinnt sich. Er erkennt schnell, dass die örtliche Bevölkerung nicht verstehen wird und nicht zu schätzen weiss, woher er kommt, und dass er dazu bestimmt ist, ihr Führer zu werden. Sie würden ihm nicht glauben, ihn für verückt halten, ja sich vielleicht sogar feindlich verhalten.

Doch sein Wunsch zu feiern ist übermächtig. Also denkt er sich einen Plan aus. Nachdem er den Brief bekommen hat, macht er eine Ankündigung in der ganzen Stadt, dass alle zum Essen und Trinken eingeladen sind. Natürlich sind alle Einwohner der Stadt begeistert. Sie nehmen die Einladung an. Einstweilen, während dem sie freudig ihr kostenloses Mahl feiern, feiert der Königssohn mit ihnen den Brief, den er von seinem Vater erhalten hat.

G-tt ist der König, und jede/r von uns ist ein Kind des Königs. Unsere natürliche Umgebung, bevor wir auf die Welt kommen, ist der himmlische Palast, eine spirituelle Umgebung in der sich unsere Seelen total wohl fühlen. Aber um unsere wahren Fähigkeiten zu entfalten und zu leben, nimmt uns G-tt aus unserem bequemen Cocon heraus und schickt uns in eine fremde, materielle Welt. Eine Welt die hart und grausam sein kann.

Und wir vergessen. Während dem wir uns an unsere materielle Existenz gewöhnen, vergessen wir unseren Ausgangspunkt und unsere Bestimmung – den Zweck unserer Reise auf die Erde.

Doch G-tt schickt uns mehrmals im Jahr einen ‚Brief‘ – Er gibt uns die Feiertage als Erinnerung, dass wir von einem höheren Ort kommen, und dass wir dafür da sind die materielle Welt in einen G-ttlichen Wohnsitz zu verwandeln, ein zu Hause für unsere Seelen. Wenn wir diese Briefe erhalten, wollen wir natürlich feiern.

Doch gibt es da ein kleines Problem. Unsere materiellen Körper und die Welt um uns herum sind nicht gerade dafür eingerichtet mit uns zu feiern; sie verstehen die geistige Wahrheit, die wir empfangen haben, nicht, oder wissen sie nicht zu schätzen. Sie sind so mit ihrer eigennützigen Welt der Materie ausgefüllt, dass sie uns gar nicht erlauben werden, frei unsere spirituelle Seite zu feiern.

Also sagt uns G-tt: „Gib deinem Körper gutes Essen und Trinken am Feiertag. Versorge ihn mit Gratis-Menüs und Cocktails. Erlaube deinem Körper auf seine Art zu feiern, während du den ‚Brief‘, welchen du von Mir an diesem großen Feiertag erhalten hast, feierst.“

Das ist das Geheimnis des Essens. Der Körper des Essens ist die Nahrung und das Wohlbefinden, das sie unserem Körper gibt. Die Seele des Essens ist die G-ttliche Botschaft, die wir jeden Feiertag erhalten.

Man kann essen und man kann essen. Du kannst dich in Mahlzeiten und Drinks stürzen, die grad mal so lang dauern, wie der Geschmack im Mund anhält und die Nahrung im Magen bleibt, bis - zur nächsten Mahlzeit. Oder du kannst durch eine Bracha das Essen segnen und heiligen, es bei Tisch essen, den du damit in einen heiligen Altar verwandelst, und dann die Kraft der spirituellen Botschaft in eine zeitlose Erfahrung verewigen.

Fünf Sekunden können so oder so ablaufen: Die Speiseröhre hinunter in deinen Bauch. Oder hinauf zur Ewigkeit. Es liegt an dir.