Die chassidischen Meister erklären den Namen des Monats Elul (des Monats vor den Hohen Feiertagen) als Akronym von „ani ledodi wedodi li“ – „Ich bin meines Geliebten und mein Geliebter ist mein“. Immer wenn der Monat Elul naht, erinnert mich sein wunderschöner Name daran, wie ich diesen Vers aus dem Lied der Lieder in der Kol-Schadai-Synagoge in der Schimschon-Straße in Jerusalem hörte, gesungen an Freitag-Abenden. Vor meiner Eheschliessung pflegte ich viele Jahre in dieses kleine marokkanische Bethaus zu gehen, um den Schabbat zu begrüssen.
Ein wenig fühlte ich mich wie Alice im Wunderland mit zu langen Beinen und zu blonden Haaren, wenn ich pünktlich zum Nachmittagsgebet kam, um ja das gesamte Lied der Lieder hören zu können, das in der Pause gesungen wurde, bevor man Schabbat mit dem Abendgebet hereinbrachte. Obwohl alle sefardischen Synagogen das Lied der Lieder am Freitag Abend singen, war doch dieses Bethaus ganz speziell mit wunderbaren Stimmen gesegnet. Die kleinen Buben stachen heraus, jedoch ohne zu schreien. Ihre Väter hatten tiefe im Bass tragende Stimmen und ihre Großväter reife, lieblich trällernde Stimmen. Üblicherweise singt man in marokkanischen Gemeinden die Gebete unisono, doch hier wurden das Lied der Lieder sowie „Lecha Dodi“ am Freitag Abend zu mehrfachen Solodarbietungen. Wer immer hineinsprang, sang einige Zeilen, bis jemand anderer dazu glitt.
Für mich, die ich aus Washington, DC kam, wo die Mitglieder der Synagoge ihren Kantor bezahlten, um ihr eigenes Gebet so passiv wie möglich sein zu lassen, war diese Spontaneität etwas Wundervolles. Ich fühlte mich als wanderte ich durch den Sinai, die Stimmen von „Kol-Schadai“ sich mit den Tonarten des Windes und der Wüste mischend.
Die Frauengalerie war eine improvisierte Zusammenstellung einfacher, alter Holzbänke entlang den Mauern eines engen Raums, der an den Männer-Sektor angrenzte. Wir traten durch einen dunklen Gang ein, in dem es einige überraschende Steinstufen gab. Niemand in Washington hätte solche Bedingungen akzeptiert, doch hier machten alte Frauen, die kaum gehen konnten, ihren Weg zügig ein und aus. Die kleinen älteren Frauen, die auf langen Holzbänken sassen, ihre Hände hinauf zum Himmel geöffnet, konnten nicht lesen, doch sie wussten die Liturgie auswendig. Sie hatten die Macht, die Musik zu dirigieren. Wenn einer der Männer von seinem Solo davongetragen wurde, zu viel trillernd, oder eine Note zu lang aushaltend, pflegten sie zu lachen, „Opernsänger!“ – und verwiesen ihn so der Bühne.
Ich lernte nie die Namen der Frauen, doch da waren zwei, die ich besonders mochte. Eine wirkte scharf, mit diamantgenau geschnittenen Augen und hageren Wangen. Die andere hatte hohe Wangen wie Äpfel, und sanfte süsse Augen. Wenn wir uns am Ende von „Lecha Dodi“ erhoben, um die Königin Schabbat zu begrüssen, pflegte sie zur offenen Tür zu gehen, sich mit ausgestreckten Armen zu verbeugen, und die Mesusah zu küssen. Als sich die G-ttliche Gegenwart niederliess, verschwanden alle wochentäglichen Sorgen und Mühen.
Nun, da ich verheiratet bin, bringe ich Schabbat ins Haus. Wenn ich zum letzten Vers von „Lecha Dodi“ komme, öffne ich die Türe und küsse die Mesusa. Es ist ein Moment von Liebe und Frieden.
G-tt ist immer mit uns, nur wir sind nicht immer bei Ihm. Ein besonderer Tag der Woche, ein besonderer Monat des Jahres, ermöglicht es uns, näher zu kommen, und willkommen zu sein im G-ttlichen. Egal wie gross die Sorgen oder Anstrengungen waren – wenn wir die Türe öffnen, wird der Geliebte eintreten.
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