Als der berühmte Rabbi Abraham von Sochatschow noch ein kleines Kind war, wurde er einst sehr krank. Sein Vater beeilte sich und reiste nach Kotzk, um den dort ansässigen Zaddik, Rabbi Menachem Mendel zu bitten, für das Kind zu beten. Der Vater erzählte dem Rabbi, was für ein Wunderkind sein Sohn sei und wie fleissig er die Tora studiere. Darauf antwortete der Rabbi: “Und das soll Tora Studieren heissen?!"
Der Vater war nun sehr verwundert, denn es ist nicht üblich, über einen kranken Menschen abschätzig zu sprechen. Die Worte eines Menschen und speziell eines heiligen Mannes haben ja auch im Himmel eine Wirkung und deshalb sollte man bei jeder Gelegenheit, ganz speziell jedoch wenn ein Mensch nicht gesund ist, nur Gutes über ihn erzählen. Und hier tönte es so, als ob der Rabbi das Kind abschätzig beurteilte.
Als der Vater heimkam, bemerkte er zu seiner Freude, dass das Kind wieder gesund geworden war. Das Kind wollte nun genau wissen, was der Rabbi gesagt habe. Doch der Vater der seinen Sohn nicht entmutigen wollte, wollte es ihm nicht erzählen. Als das Kind sehr darauf drängte, es doch zu erfahren, sagte der Vater: “Glaube mir, mein Sohn, ich selbst verstehe nicht was der Rabbi gesagt hat!" Mit diesen Worten machte er den Knaben jedoch nur noch neugieriger und schlussendlich musste er alles erzählen was der Rabbi gesagt hatte.
Darauf meinte sein Sohn:" Warum verstehst Du denn nicht, was der Rabbi wollte?! Es ist doch sehr einfach: Der Rabbi befürchtete, dass ich durch mein fleissiges Studium meinen geistigen Daseinszweck auf dieser Welt schon erreicht hätte. Um dies zu bestreiten sagte er: ‚Und das soll Tora studieren heissen?!' Es gibt dazu eine ähnliche Geschichte im Talmud: ‚Als Rabbi Tarfon krank wurde, kam seine Mutter zu den Weisen, und bat diese, für ihren Sohn zu beten. Sie erzählte ihnen, wie ihr Sohn sich besondere Mühe gäbe, seine Mutter zu ehren. Einst hatte sich ihre Sandale aufgelöst und er legte seine Hand unter ihren Fuss, um sie nicht auf den Erdboden treten zu lassen. Darauf reagierten die Weisen: ‚Selbst wenn er tausend Mal soviel getan hätte, würde er das Gebot “Ehre Vater und Mutter" noch lange nicht erfüllt haben'. Auch hier können wir uns wundern: Warum sollten die Weisen über einen kranken Freund so abschätzig reden? Doch ihr Motiv ist klar: Sie befürchteten, dass Rabbi Tarfon seine Aufgabe in dieser Welt durch diese aussergewöhnliche Hingabe zu seiner Mutter schon erfüllt hatte und bemühten sich deshalb zu zeigen, dass er noch viel mehr erreichen könne."
Sein Vater war sehr erstaunt, als er von seinem Sohn diese tiefe und scharfsinnige Antwort zu einer merkwürdigen Aussage des Rabbi hörte. Als er den Rabbi bei einer Gelegenheit wieder einmal besuchte, erzählte er dem Rabbi die Antwort. Dieser sagte nur: “So, er kennt schon meine Gedanken!?"
ב"ה
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