Als Rabbi Jehoschua ben Karcha eines Tages mit seinen Schülern die Torah studierte, betrat ein Nichtjude den Saal und hörte der Diskussion zu. Aber sein Interesse war nicht aufrichtig. Er war nur gekommen, um einiges über die Torah zu erfahren, damit er es verdrehen und zum Nachteil der Juden verwenden konnte. Er verstand gut Hebräisch und stand still hinten im Raum. Dort hörte er zu und wartete auf einen günstigen Augenblick. Er wollte Rabbi Jehoschua eine Frage stellen und ihn mit seinen eigenen Argumenten vor seinen Schülern widerlegen. Wenn er seine Karten gut ausspielte, konnte er vielleicht sogar Zweifel in den Köpfen der jungen Männer säen und sie zum Abfall vom Glauben verleiten.

Der Moment kam, und der Nichtjude konfrontierte den Weisen mit seiner Frage: „Warum studieren die Juden Tag und Nacht ihre Torah, halten aber ihre Gebote nicht ein?“

Rabbi Jehoschua kannte Leute dieses Schlages. Ruhig fragte er: „Was meinst du damit? Was hast du beobachtet? Inwiefern übertreten wir deine Meinung nach die Gebote unserer Torah?“

„Es geht mir nicht nur um ein bestimmtes Gesetz, sondern um den Geist der Torah. Denn steht darin nicht geschrieben, dass die Minderheit der Mehrheit folgen soll? Das heißt doch, wer eine Meinung vertritt, die von der Meinung aller anderen abweicht, soll sich der Meinung der Mehrheit anschließen. Nun gibt es viel mehr Nichtjuden als Juden auf der Welt, und doch beharrt ihr stur auf eurer Religion. Also verstoßt ihr gegen eure eigenen Gebote, weil ihr keine Götzen anbetet.“

Rabbi Jehoschua hatte dieses törichte Argument schon oft gehört, und er erkannte, dass der Nichtjude die Bedeutung des Verses, auf den er anspielte, völlig missverstanden hatte. Bei dem Vers ging es um Urteile des Sanhedrins (des obersten Gerichts) in Fällen, wo die Todesstrafe drohte. Dann war eine Mehrheit von zwei oder mehr Richtern erforderlich, um diese Strafe zu verhängen.

Rabbi Jehoschua wusste, dass der Nichtjude böse Absichten hegte, und darum wollte er ihm die wahre Bedeutung des Verses nicht erklären. Der Götzendiener würde seine Worte verdrehen und den Juden damit Schaden zufügen. Nein, er musste ihm so antworten, dass er solche Tricks nie wieder anwenden würde. Also wandte er sind dem Mann zu und fragte: „Hast du Söhne?“

Sofort änderte sich die Miene des Mannes. Aus Hochmut wurde tiefe Trauer. „Woher weißt du das? Ich habe viele Söhne, aber sie machen mir großen Kummer. Jeden Abend, wenn die Familie beim Essen sitzt, betet jeder meiner Söhne zu seinem eigenen Götzen. Dann beginnt der Streit. Der eine sagt, sein Götze sei der einzig wahre, und der nächste schreit: Das ist eine Lüge – nur der meine ist wahr! So geht das weiter, bis alle zu erregt sind, um zu essen. Manchmal prügeln sie sich sogar, und es fließt Blut!“

„Wie schrecklich!“, sagte Rabbi Jehoschua. „Ich verstehe nicht, warum du unter deinen Kindern keinen Frieden stiften kannst. Wenn du für einen Partei ergreifst, kannst du gewiss die anderen überzeugen.“

„Das ist unmöglich! Sie haben alle Unrecht. Nur mein Gott ist der wahre, und ich kann sie nicht davon überzeugen. Es wird nie Frieden in meinem Haus geben.“

Rabbi Jehoschua sah den Götzendiener an und ermahnte ihn scharf: „Wenn du nicht einmal unter deinen eigenen Kindern für Frieden sorgen kannst, wie kannst du es wagen, mit deinen dummen Fragen zu uns zu kommen?!“ Der Nichtjude drehte sich um und ging, und man sah ihn nie wieder.

Die Schüler des Rabbis umringten ihren Lehrer und lobten ihn für seine kluge Antwort. „Meister“, sagten sie, „in der Torah steht an vielen Stellen, dass es verboten ist, Götzen anzubeten. Wie konnte er annehmen, G-tt fordere uns auf, der Mehrheit der Götzendiener zu folgen? Aber sagt uns bitte, ob seine Frage irgendwo in der Torah erwähnt wird.“

Rabbi Jehoschua antwortete: „Ihr glaubt vielleicht, ich hätte mir mit diesem Mann nur einen Spaß erlaubt, aber das stimmt nicht. Meine Antwort war ernst. Er wollte, dass wir uns immer nach der Mehrheit richten, selbst wenn sie böse ist, und darum, meinte er, müssten wir falsche ,Götter’ anbeten, G-tt verhüte es. Aber in Wahrheit sind diese Nichtjuden keine Mehrheit, denn sie stammen von Eisaw ab und sind unter sich uneinig. Da jeder von ihnen seine eigene Meinung hat, bestehen sie aus vielen Individuen, nicht aus einer einheitlichen Gruppe. Die Juden stammen dagegen von Jaakow ab und sind vereint im Dienst an G-tt. Die Torah spricht von ,allen Seelen in seinem Haus’ – gemeint ist Eisaws Haus, und „Seelen“ steht im Plural, weil ihre Meinungen geteilt sind. Über Jaakow steht geschrieben: ,Alle waren siebzig Seele’ – „Seele“ im Singular, weil sie alle den einen G-tt verehrten. Daraus ersehen wir, wie genau die Worte der Torah sind. Nichts ist überflüssig, und jeder Buchstabe hat eine tiefe Bedeutung.“