Frage?

Ich bin in der Klemme. Ich mag den Schabbat. Ich habe die Tora gern – vor allem diese kabbalistischen Sachen und die chassidischen Geschichten. Ich fühle mich dem Jüdischen Volk stark verbunden, ich würde gerne viele dieser Dinge machen.

Also, fragen Sie, wo liegt mein Problem. Tu es einfach, nicht wahr?

Aber ich kann nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, orthodox zu sein. Ich meine, sehen Sie mich an. Sehen Sie sich an, wie ich aufgewachsen bin, woher ich komme, wo ich jetzt bin. Können Sie sich einen Nicht-Konformisten wie mich vorstellen, der sich an die Vorschriften eines strikt koscheren, orthodoxen Juden hält?

Gezeichnet, Unorthodox

Antwort!

Lieber Unorthodox,

Endlich, ein Mensch meiner Überzeugung! Unorthodox, jaaa! Die aussagekräftigste Bezeichnung, die es für wahres Judentum gibt! Die Überzeugung, dass nichts so ist, wie es aussieht, dass sich alles in der Welt ändern sollte, dass wir anders sind oder sein sollten. Das ist der Kern der jüdischen Existenz – die aufsässigen, widerspenstigen, aufrührerischen, revolutionären Ruhestörer der Geschichte. – Und was könnte unorthodoxer sein als das?

Begann nicht das Judentum mit dem Inbegriff des Ikonoklasmus? Stell Dir Avraham vor, der die Götzen im Haus seines Vaters zertrümmert, allen sozialen Normen und König Nimrod die Stirn bietet. Stell Dir Moses vor, wie er Pharao trotzt, oder Rabbi Akiva und die Weisen, die sich dem übermächtige Römischen Reich stellten. Ist das etwas, was Du als ›orthodoxes‹ Verhalten bezeichnen würdest?

Jüdisch zu sein bedeutet zu rebellieren. Sich zu weigern, am Schabbat zum Telefon zu gehen ist eine Rebellion gegen die Technokratie. Koscher zu halten ist eine Rebellion gegen den Konsumwahn. Frühmorgens aufzustehen, um sich in ein großes, weißes Wolltuch zu hüllen, Lederriemen um den Arm zu binden, mystische Rezitationen zu sprechen und aus einer uralten Pergamentrolle zu lesen – ist eine offene Rebellion gegen alles, was im modernen Leben als normal bezeichnet wird.

Kennst Du die Geschichte über den Rabbiner, der auf der Straße Ausschau hält nach einem Zehnten für seinen Minjan? Schließlich findet er einen Juden. Aber der versucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem er ihm erklärt: »Ich will nichts mit organisierter Religion zu tun haben.«

»Wenn das organisierte Religion wäre!«, ruft der Rabbi »Warum in aller Welt stehe ich dann hier auf der Straße und belästige Passanten?«

Waren Juden jemals orthodox? Hat es jemals eine Zeit gegeben, als unsere Ansichten und Verhaltensweisen als normal galten? Pharao dachte, wir sind verrückt, weil wir Arbeiterrechte forderten. Die Römer dachten, wir sind abnormal, weil wir ungesunde Babys nicht entsorgen wollten. Die Kirche dachte, wir sind pervers, weil wir uns nicht dem Glauben der Mehrheit unterwerfen wollten. Die Rationalisten behaupteten, wir seien nicht ganz dicht wegen unseres Mystizismus. Die Romantiker hielten uns für beschränkt aufgrund unseres Rationalismus. Die Vereinten Nationen beschlossen, dass die Juden seltsam sind, weil wir darauf bestehen, zu existieren. In der Zwischenzeit haben sich all dies Leute daran gemacht, unsere Anschauungen zu übernehmen – und dennoch bleiben wir eine Abnormität unter den Völkern. Um mit den Worten des Lubawitscher Rebben zu sprechen, kann das Judentum nie altmodisch sein, denn es entsprach von Anfang an keiner Mode.

Also, wessen Einfall ist dieser absurde Begriff ›orthodoxes Judentum‹? Ich will es Dir sagen: Vor 200 Jahren, als der große Napoleon beschloss, dass er der wahre Messias sei und die Juden befreit werden müssten, beauftragte er einige jüdische Persönlichkeiten mit der Bildung eines Sanhedrin aus Rabbinern und Gelehrten, genauso wie es einmal in alten Zeiten war. Solcherart geehrt, machten sich diese Leute daran, ihre Freunde zum Mitmachen zu überreden. Ich meine, Napoleon war schließlich die Welle der Zukunft. Das war Fortschritt, echt progressiv.

Aber einige Rabbiner waren der Meinung, dass das gar nicht solch ein Fortschritt war. Napoleon, ein Messias? Paris das neue Jerusalem? Also lehnten sie ab. Und für diese Weigerung, zu verstehen, wie rückständig und engstirnig sie waren, wurden sie gebrandmarkt als »ihr ... ihr ... ihr ORTHODOXEN RABBINER!«

»Orthodox? Nun gut«, sagten die. »Aber dieser kleingewachsene Herr mit seiner Hand im Hemd ist nicht der Messias!«

Es ist so ähnlich wie mit den Hippies, als sie begannen, sich ›Freaks‹ zu nennen. Irgendeinem Schrebergartenbesitzer in Woodstock missfielen diese netten amerikanischen Jugendlichen und er spie diesen Beinamen in die Fernsehkameras. Und sie sagten, warum sollten wir dagegen ankämpfen? Und sie nannten sich ›Freaks‹.

Im heutigen Jargon beschreibt man als ›Orthodox‹ diejenigen, die nicht die Tora abändern, damit sie besser hineinpasst in das, was alle anderen machen. In diesem Sinn zähle ich mich absolut zur ›Orthodoxie‹. Aber ich fühle mich sicher nicht orthodox. Sollte ich?

»Etiketten sind für Hemden.«Das ist eine andere Sache, die der Lubawitscher Rebbe sagte: »Etiketten sind für Hemden.« Okay, es gibt auch noch andere Dinge, die unbedingt Etiketten brauchen: ›Reform-Tempel‹ etwa, ›Konservatives G-tteshaus‹, oder ›Orthodoxe Synagoge‹. Aber die Juden, die man dort findet, haben alle nur ein Etikett: Jude. ›Jude‹ ist keine Verhaltens-Bezeichnung. Es ist ein essentieller Zustand des Seins.

Wenn Dich also jemand bittet, die wichtigsten Gruppen im heutigen Judentum zu beschreiben, antworte wie folgt:

Es gibt drei Arten von Juden:
Juden, die Mizwot erfüllen.
Juden, die mehr Mizwot erfüllen.
Juden, die noch mehr Mizwot erfüllen.

Bezüglich Deiner Frage mit dem Joch, das zu tun und jenes zu unterlassen ... in Wirklichkeit läuft das ganz anders ab. Für Einsteiger sei erklärt: Das gesamte System ist schon in der jüdischen DNA gespeichert, das ist der natürliche Zustand des Juden. Nehmen wir diese Beschwörungen am Morgen als Beispiel: Das ist die Gelegenheit, sich bei Ihm über alles in der Welt aufzuregen, zu kritisieren, Verbesserungen vorzuschlagen. Wenn man das nicht ordentlich macht, raunzt man am Ende den ganzen Tag über. Deshalb wurden Zeiten festgelegt, zu denen man das alles aus dem System schafft, um den Rest des Tages konstruktiv Dinge erledigen zu können.

Dasselbe mit Schabbat, Koscher, Mikwe – all die Techniken und Bräuche, die Juden seit 3.300 Jahren ausführen. Du musst nur die jüdische Seele in Dir mit ein bisschen tiefendimensionaler Tora und ein paar süßen chassidischen Melodien zum Leben erwecken und sie wird das ihre tun. Spontan. Mit Freude.

Nenn’ es ›müheloses Judentum‹. Noch besser, benenne es überhaupt nicht. Außer, vielleicht, sehr unorthodox.