Am ersten Tag des Monats Siwan gelangten die Kinder Israels in die Wüste Sinai, wo sie am Fuße des G-ttesberges lagerten. Die Thora erzählt von diesen Ereignissen und verwendet dabei die Pluralform für die Kinder Israels, wechselt dann aber schlagartig in den Singular: Und sie kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste, und Israel lagerte dort gegenüber dem Berg.1 Daraus lernen unsere Weisen2, dass bei dieser Raststätte ganz Israel „wie ein Mann, mit einem Herzen war“, und nicht wie bei vorherigen Raststätten, in denen es Uneinigkeit und Streit unter dem Volk gab. Diese Brüderlichkeit und Vereinigung waren Voraussetzung für das Erhalten der Thora.
Aber ehrlich gesagt: So besonders war die Einheit des Volkes beim G-ttesberg auch wieder nicht. Schon im Monat Nissan, beim Auszug aus Ägypten, schildert uns die Thora einen Zustand der absoluten Vereinigung im jüdischen Volk. Und so heißt es dort: Alle Scharen G-ttes zogen aus3 – alle zusammen bildeten eine Heerschar. „Heerschar“ in ihrer eigentlichen Bedeutung drückt völlige Einheit aus. Denn in einem Heer müssen alle vereint sein, und es gibt keinen Unterschied zwischen diesem und jenem Soldaten; alle sind gleich wichtig. Worin also lag die Besonderheit bei der Vereinigung im Siwan?
Gleichheit?
Wenn man die Bedeutung von „Vereinigung“ näher betrachtet, besteht sehr wohl ein wesentlicher Unterschied zwischen der Einheit Israels beim Auszug aus Ägypten und der Vereinigung, welche das jüdische Volk unmittelbar vor dem Erhalten der Thora erlangt hatte.
Beim Auszug aus Ägypten gab es noch keine Unterteilung unter den Kindern Israels in irgendeiner Form. Auch die Einteilung in die Volksschichten Kohen, Lewi und Israel bestand zu jener Zeit noch nicht. In einem solchen Zustand, wo alle gleich sind, ist es keine herausragende Leistung Vereinigung zu erreichen. Im Monat Siwan aber sah die Sache schon anders aus. Das Volk war bereits in verschiedene Gruppen geteilt; es gab Zwischenfälle von Streit und Uneinigkeit unter dem Volk. Eben darin drückt sich die große Besonderheit der Vereinigung im Siwan aus! Trotz aller (Meinungs-)Unterschiede im jüdischen Volk, erlangten die Kinder Israels vollkommene Einheit „wie ein Mann mit einem Herzen“!
Der dritte Monat
Diese besondere Vereinigung findet ihren Ausdruck auch in der Tatsache, dass der Monat Siwan als „dritter Monat“ gilt, gegenüber dem Monat Nissan, „dem ersten Monat“ (in Bezug auf die drei „Wallfahrtsfeste“, Pessach, Schawuot und Sukkot).
Die Zahl Eins scheint die Vollkommenheit der Vereinigung zu symbolisieren. Es gibt nur das eine Einzige und nichts Anderes. Aber in Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht um wahre Vereinigung, denn ohne Verschiedenheit und Gegensätze verliert „Vereinigung“ jegliche Bedeutung. Verschiedenheit beginnt mit der Zahl Zwei. Denn nun gibt es bereits zwei Dinge, die nicht immer gleich, ja sogar widersprüchlich sind. Und dann kommt die „Zahl Drei“, G-tt, Der Eins und Zwei zur wahren Vereinigung bringt.
Das Potenzial ist gegeben
Das ist das Besondere an der Vereinigung im „dritten Monat“: Obwohl unter den Kindern Israels bereits Verschiedenheit herrschte, waren sie dennoch untereinander vereint und erlangten wahre Vereinigung, bis zur vollkommenen Vereinigung – „wie ein Mann mit einem Herzen“!
Am Schawuotfest, wo wir einst wahre Vereinigung und Brüderlichkeit erreicht haben, ist uns in jedem Jahr aufs Neue die Kraft gegeben diese Einheit zu erlangen; und dies mit dem Bewusstsein, dass wahre Vereinigung nicht ein gleiches Denken und Sein erzwingt, sondern genau umgekehrt: gerade dort, wo es Meinungsverschiedenheiten gibt und sogar Streit, kann erst wahre Vereinigung entstehen, und zwar durch die Thora. Denn wir alle sind Juden, Teil des jüdischen Volkes, welches G-tt zum Schawuotfest zu Seinem Volk erwählt hat. Diese Vereinigung führt zum Erhalt der Thora am Schawuotfest und schließlich zur baldigen vollkommenen Erlösung!
(Thorat Menachem, Hitwaadujot, Jahrgang 5752, Band 3, Seite 1491)
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