Zu Anfang der dieswöchigen Sidra Wajera lesen wir, dass G-tt dem Abraham erschien, nachdem dieser sich im Alter von 99 Jahren beschnitten hatte. Welche Bedeutung kommt diesem Akt Abrahams zu, und weshalb verdiente er einen so großen Lohn?
Sogar wenn ein Jude 99 Jahre alt ist, und dies nicht nur an Kalenderjahren, sondern an Jahren eines ununterbrochenen Dienstes an G-tt, ist er trotzdem und immer noch verpflichtet, sich zu beschneiden. Im übertragenen, vergeistigten Sinne heißt dies, dass man die "Vorhaut" der Welt entfernt, das ist die äußere Hülle von Vergnügungssucht, die dazu angetan ist, den wahren Inhalt der G-ttlichen Schöpfung zu verschleiern. Es heißt in den "Sprüchen der Väter" (5, 21 bzw. 25): "Ist jemand 100 Jahre alt, dann ist er so, als sei er bereits tot, vergangen und der Welt entrückt." Mit anderen Worten: Zu diesem Zeitpunkt, 100 Jahre alt an Jahren und an geistiger Entwicklung, wenn die Welt für ihn das G-ttliche nicht mehr verhüllt, hat ein Mann das Ziel der inneren "Beschneidung" erreicht. Vorher jedoch, wenn nur ein Jahr oder ein Grad von Heiligung fehlt, bleibt diese Aufgabe noch unerfüllt.
Zwischen Abraham und dem Gebot der Beschneidung bestand eine sehr besondere Verbindung. Nach Maimonides ("Jad", Hilchot Melachim, Anfang von Kap. 9) erhielt Adam sechs Gebote, und ein siebentes wurde noch für Noach hinzugefügt; ein zusätzliches Gebot erhielt Abraham, eben die die Vorschrift der Beschneidung. Nachdem also dieses Gebot erstmalig an Abraham erging, muss es für ihn von spezifischer Erheblichkeit gewesen sein, woraus zu folgern ist, dass seine Beschneidung nicht einfach zu seinen 99 Lebensjahren etwas hinzufügte, sondern dass bis dahin in seinem Leben dessen zentraler Bestandteil überhaupt gefehlt hatte. Dies wird noch untermauert durch die Worte, die G-tt an Abraham im Zusammenhang mit der Beschneidung richtete (Genesis 17, 1): "Sei vollkommen"; daraus ist zu entnehmen, dass Abraham bis dahin noch beeinträchtigt war (s. Raschi z.St.; Talmud, Nedarim 32a).
Noch aus einem anderen Grunde ist Abrahams Beschneidung erheblich. Wir können ihn auf folgende Weise erklären:
Wir haben das Prinzip, demzufolge die Gebote, die wir – nach der Offenbarung der Tora – erfüllen, höher stehen als diejenigen, die unsere Stammväter vor der Offenbarung einhielten; in der Tat sagt der Midrasch (Schir haSchirim Rabba 1, 3): All die Gebote, welche die Väter vor Dir einhielten, sind gleich dem Duft (von feinem Öl), während die unseren wie "ausgegossenes Öl" sind. – Demnach: Was die Stammväter taten, war, verglichen mit uns, wie ein Duft angesichts seiner eigentlichen Quelle – wie eine bloße Ausstrahlung, verglichen mit ihrem wesentlichen Ausgangspunkt.
Die Erklärung hierfür ist, dass unsere Stammväter alle von ihnen ausgeführten Gebote aufgrund ihrer eigenen Stärke und Neigung erfüllten, und nicht als eine direkte Reaktion auf G-ttes Befehl. Wir dagegen, nach der Offenbarung der Tora, sind mit jeder Erfüllung eines Gebotes mit Dem verbunden, Der es befahl; und so sind, ganz folgerichtig, die ersten Worte der Gesetzgebung (Exodus 20, 2): "Ich (in Meinem Wesen) bin der Ewige, dein G-tt." Diese Verbindung beinhaltet eine permanente Veränderung der Welt, der nunmehr eine zeitlose Heiligkeit anhaftet. Die spontane Frömmigkeit der Stammväter dagegen wurde nicht durch ein G-ttliches Gebot ausgelöst; und so war die Heiligkeit ihrer Taten in ihrer Auswirkung auf die Welt nicht permanent, sondern zeitgebunden.
Das ist die eine Seite. Ihr gegenüber aber steht der ebenso wichtige Grundsatz: "Die Taten der Väter sind ein Vorzeichen für ihre Kinder"; er besagt, dass die spirituellen Reserven, über die wir bei der Einhaltung der Gebote verfügen, von den Vorvätern ererbt sind, also noch auf eine Zeit vor der Gesetzgebung zurückgehen. Wie konnte dies so sein, wenn keine Verbindung zwischen den Geboten vor Sinai und nach Sinai bestand? Es gibt eine Ausnahme: Ein Gebot stellt diese Kette her. Es war Abrahams Beschneidung; ihr wohnt ein dauerndes Verdienst inne.
So denn wurde sein Wesen "vollkommen" nach 99 Jahren des Dienstes an G-tt.
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