Frage?
Meine Frage bezieht sich auf das Thema Sklaverei in der Tora. Warum hat es die Tora erlaubt. Diese Frage lässt mich nicht in Ruhe, obwohl ich weiß, dass es eine rechtfertigende Erklärung geben muss.
Antwort!
Es gibt Fragen, die den Kern der Sache erfassen. Dann liefert ein „Kluger“ eine Antwort, die zwar die Frage beseitigt, doch nicht beantwortet.
Solche Fragen sind nicht nur Löcher im Boden, die darauf warten, wieder zugeschaufelt zu werden. Sie sind eine Einladung, die Tiefen unter der Oberfläche zu erforschen, indem wir uns mit dem Fundament unseres Glaubens beschäftigen, Grundannahmen in Frage stellen und die Landschaft neu eingrenzen.
Ihre Frage ist eine jener Fundamentfragen: Ist die Sklaverei letzten Endes keine Antithese zur Tora?
Die Tora beginnt mit der Erschaffung Adams, des ersten Menschen, nach dem G-ttlichen Ebenbild. Das zentrale Ereignis in der Erzählung der Tora ist die Befreiung einer ganzen Nation die in Ägypten versklavt worden war, aus den Krallen ihres grausamen Unterdrückers. Die Tora beschäftigt sich mit den Themen der Freiheit, der menschlichen Würde, des Respekts für unsere Mitmenschen, die sich auf diesem Planeten befinden, um dessen Wohlergehen der Schöpfer sich 24h am Tag bemüht. Viel eher als die Entdeckung G-ttes durch den Menschen ist die Tora die Entdeckung des Menschen und seiner Welt durch G-tt, d.h. der Mensch aus G-ttes Sicht betrachtet.
Wie kann dieselbe Tora, die uns zu besseren Menschen machen soll, die Versklavung eines Mitmenschen, der nach G-ttlichem Ebenbild erschaffen wurde, erlauben?Sie werden ebenfalls feststellen, dass wir in der Tora nach den Zehn Gebote Gesetze finden, die sich unter anderem auf die hebräische Magd beziehen – mit den Rechten derjenigen Bevölkerung, die am leichtesten unterdrückt wird: ein junges Mädchen, das im Haus eines Fremden arbeitet.
Lassen Sie mich Ihnen eine andere Waffe der sozialen Umwälzung vorstellen, welche die Tora unterstützt, vor allem durch das Medium von König Davids Psalmensammlung: Die CEO-Politik der offenen Tür. Auch bekannt als "persönliches Gebet": Jeder Mensch und sogar jedes Lebewesen, kann sich jederzeit und für jedes Anliegen an den Schöpfer des Universums wenden und seine Bitte wird erhört und bearbeitet werden. Garantiert. "Dieser arme Mensch schreit auf und G-tt hört zu." Es mag Ihnen nicht aufgefallen sein, doch könnten eben die radikalsten, subversivsten und revolutionärsten Gedanken der Geschichte gewesen sein. Während die Könige und Priester des Altertums sich darum bemühten, ihren Untertanen einzureden, dass das Leben eine lange Befehlskette ist, in der sie sich ganz oben befinden, während der einfache Bürger viel weiter unten positioniert wurde, wälzte die Idee des persönlichen Gebetes jede Hierarchie nieder: Jeder Mensch ist gleich weit von der Spitze entfernt.
Die Tora handelt nicht nur von Freiheit, sondern sie befreit auf eine ganz radikale Weise. Dennoch finden wir in ihr Gesetze über das Kaufen und Verkaufen von Sklaven. Was geht hier vor?
O.K., es sind keine richtigen Sklaven. Sklaven sind Leute, die gänzlich im Besitz eines anderen stehen. Gemäß Tora-Gesetz haben wir nie vollständiges Eigentumsrecht über eine Sache, geschweige denn, über einen Menschen. Selbst wenn es sich um kanaanische Sklaven handelte, die normalerweise ihr ganzes Leben lang bei derselben Familie tätig waren, mussten diese am Schabbat und an den jüdischen Festtagen nicht arbeiten, durften weder physisch noch psychisch missbraucht werden und waren verpflichtet, viele Mizwot zu beachten. Daher sind sie wohl eher mit Hausdienern vergleichbar.
Doch das beantwortet sicherlich nicht unsere Frage: Warum soll irgendein Mensch irgendwelcher Rechte und Privilegien beraubt werden, die andere haben? Wie z.B. dort zu leben, wo es ihm gefällt, für denjenigen zu arbeiten, der ihm passt und zu kündigen, wann immer er will. Wie ist das mit der Behauptung der Tora, dass jeder Mensch nach dem G-ttlichen Bilde erschaffen wurde, zu versöhnen?
Maimonides
In der Tat scheint es hier eine gewisse Spannung zu geben, und jeder gute Dramatiker und Massagetherapeut weiß, mit Spannung lässt sich ganz gut spielen.
Wir werden uns zuerst einmal mit Maimonides Zusammenfassung der Gesetze betreffend Sklavenhaltung beschäftigen. Und nachdem wir nicht allzu viel Geduld haben, werden wir gleich mit den letzten Worten anfangen. Sie werden sich vielleicht fragen, woher kommt diese Besessenheit mit Maimonides? Ist er denn die einzige halachische Autorität für alles?
Nein, er ist es nicht. Doch ist er eine sehr empfehlenswerte Quelle, wenn wir eine Antwort suchen.
Maimonides schrieb die einzige Kodifizierung, welche die ganze Palette des jüdischen Gesetzes deckt. Die Mischna konzentriert sich mehr auf diejenigen Gesetze, die nicht zur alltäglichen Praxis gehören und daher schnell in Vergessenheit geraten könnten, und der Schulchan Aruch beschränkt sich auf jene Themen, die während des Exils maßgeblich sind. Der Rambam hingegen behandelt alle Themen und schreibt kurz und bündig und mit großer Präzision.
Sicher stieß er seinerzeit auf großen Widerstand der mehrere Jahrhunderte andauerte, doch schließlich wurde er als die größte halachische Autorität seit der Fertigstellung des babylonischen Talmuds betrachtet. Er schreibt Folgendes:
Es ist erlaubt, mit dem nichtjüdischen Sklaven unsanft umzugehen. Doch obwohl das Gesetz so lautet, der Weg des Frommen und des Weisen ist es, sich mitfühlend zu zeigen und nach Gerechtigkeit zu streben, den Sklaven nicht zu unterdrücken und ihn mit jeder Mahlzeit und jedem Getränk zu versorgen.
Die damaligen Weisen ließen ihre Sklaven von jedem Gericht, das auf ihren Tisch kam, kosten. Sie gaben sogar darauf Acht, dass ihre Tiere und auch ihre Sklaven zu Essen haben, bevor sie mit ihrer eigenen Mahlzeit anfingen. Heißt es denn nicht im Psalm (123:2): "Wie die Augen des Dieners in der Hand seines Meisters; wie die Augen der Magd zu ihrer Meisterin (so sind unsere Augen auf den Ewigen unseren G-tt gerichtet ...)"?
Auf dieselbe Weise soll man den Sklaven nicht verunglimpfen, weder physisch noch verbal. Die Tora hat ihn zu Ihrem Sklaven gemacht, um zu arbeiten, und nicht um in Ungnade zu fallen. Setzen Sie ihn nicht ständigem Tadel aus, behandeln Sie ihn nicht mit Zorn, sondern sprechen Sie in einem angenehmen Ton und hören Sie sich seine Klagen geduldig an. Das waren die wünschenswerten Verhaltensweisen, auf die sich Hiob bezog, als er sagte: "Habe ich je die Meinung meines Knechts oder meiner Magd verachtet, als sie mit mir argumentierten? Hat mein Schöpfer ihn nicht auch im Bauch erschaffen, hat nicht Derselbe uns beide im Mutterleib erschaffen?"
Denn Zorn und Grausamkeit sind nur in den anderen Nationen zu finden. Die Kinder Abrahams, unseres Vorvaters – diese sind das Volk Israel, das der-Heilige-Gesegnet-Sei-Er mit der Güte der Tora versorgt hat und mit gerechtem Urteilsvermögen und Gesetzen – diese sind jedem gegenüber erbarmungsvoll. Das ist eine der Eigenschaften des Heiligen-Gesegnet-Sei-Er, die wir gebeten werden, nachzuahmen (Psalm 145:9): "Und Er hat Erbarmen mit allem, was Er erschaffen hat."
Außerdem, all diejenigen, die Erbarmen haben, werden barmherzig behandelt werden, wie das im Buch Deuteronomium (13:18) festgelegt wurde: "Er wird dir Barmherzigkeit geben und wird mit dir Erbarmen haben und dich vermehren."
(Mischne Tora, Gesetze betreffend vetraglicht verpflichtete Diener, 9:8)
Das Anziehen der Schrauben
Wenn wir das oberflächlich lesen, könnten wir den Eindruck bekommen, dass Maimonides uns hier ein bisschen mehr als eine Apologetik bietet. Er scheint uns sagen zu wollen: "Die Tora sagt, dass wir eigentlich richtig gemein sein könnten, doch das ist nicht schön, daher tun wir es nicht."
Doch möchte ich Sie bitten, diese Worte ein bisschen sorgfältiger zu lesen. Finden Sie die Spannungen, die sich in diesen Worten verstecken. Spannungen sind von großer Bedeutung, sie sind eine Angabe dafür, dass hier etwas sehr tiefgründiges verborgen liegt: Die Tora sagt uns hier, allen Wesen G-ttes gegenüber freundlich und mitfühlend zu sein. Und das ist nicht nur ein netter Rat, sondern ein Befehl:
"Und du sollst in Seinen Wegen gehen!" (Deut. 28:9), den Maimonides selbst als eine der 613 Mizwot der Tora betrachtet (Buch der Mizwot, positives Gebot Nr. 8).
Und dann sagt dieselbe Tora: "Es ist erlaubt dem Sklaven gegenüber unangenehm zu werden!"
Die Spannung wird noch größer: Warum sind wir nett und barmherzig? Weil "der Heilige-Gesegnet-Sei –Er uns Seine Tora gegeben hat." Wie kann dann dieselbe Tora, die uns zu liebenswerten Wesen macht, es erlauben, dass wir einen Mitmenschen, der nach dem G-ttlichen Ebenbild erschaffen wurde, unterdrücken?
Wie wär's mit ein bisschen Übereinstimmung? Wieso kann die Tora nicht geradewegs bei den Sklavengesetzen sagen: "Wenn du Leute hast, die für dich arbeiten, musst du sie als gleichberechtigte Menschen betrachten. Du musst in einem angenehmen Ton mit ihnen reden, ihre Klagen anhören, ihnen dasselbe Essen servieren, das du für dich selbst auftischst, ihnen Vorsogeleistungen bieten, regelmäßige Ferien, freiwillige Sozialleistungen, Leistungsprämien, große Betriebsfeste, Aktienbezugsrecht in der Firma, betriebsinterner, professioneller Massagetherapeut während der Mittagspause und eine Sushi-Bar auf jedem Stockwerk. Falls dir das nicht passt, erledige die Arbeit selbst."
Warum schreibt das die Tora nicht? Weil das den Zweck der Tora untergraben würde.
Der Zweck
Lassen Sie uns das klären: (Wobei zu beachten ist, dass wir uns nun dem nähern, was ich am Anfang versprochen habe – der Basis.)

Wie wir das bereits erwähnt haben, ist die Tora ein radikales Element in unserer Welt. Tora ist das, was sagt: "Es sollte nicht so sein. Tue dies und tue jenes nicht." Das ist der Grund, warum die Tora gegeben werden musste: wir hätten das nicht selbst herausfinden können. Denn um eine wahre Änderung zu erzielen, muss es äußerlich über unser System kommen.
Andererseits ist die Tora auch das Wesen allen Seins, oder wie es die Weisen sagen: "Der Bauplan des Universums". Die Tora bewirkt die Veränderung nicht, indem sie eine exogene Ordnung auf die Menschen verhängt, sondern indem sie die innere, verborgene Ordnung offenbart, die in allen Dingen dieser Welt schlummert. Die Tora ist wie ein großer Lehrer, der uns zeigt, wer wir wirklich sind, was sich sehr unterscheiden kann, von dem, was wir bis dahin über uns dachten.
Die Tora bewirkt die Veränderung nicht, indem sie eine exogene Ordnung auf die Menschen verhängt, sondern indem sie die innere, verborgene Ordnung offenbart, die allen Dingen dieser Welt unterliegtDaher hat die Tora gezwungenermaßen zwei Gesichter, im Gegensatz zur menschlichen Weisheit, die nur ein Gesicht haben kann. Die menschliche Weisheit muss den gegenwärtigen Zustand entweder akzeptieren oder verwerfen, doch die Tora ist eine Stimme, die aus dem Jenseits kommt, so dass sie gleichzeitig zwei Gesichter haben kann.
Einerseits spricht die Tora von einer Zukunft, die noch nicht über die Bühne gegangen ist, inspiriert uns mit ihrer Vision und zieht uns zu jener Zeit hin.
Andererseits muss sich die Tora auch um mit dem aktuellen Zustand dieser Welt abgeben, sie nicht künstlich in eine fremde Form hineinpressen sondern ihre eigene, wahre Form zum Ausdruck bringen, ausgehend von dort, wo sie gemäß Natur und Umstände jetzt steht, zu jenem Punkt, wo sie wirklich hingehört.
Lassen Sie mich das auf eine vereinfachte Art und Weise erklären:
Nehmen wir z.B. mal eine Agrargesellschaft, die von feindlichen Nationen umgeben ist. Nehmen wir einmal an, dass diese Nationen jene Agrargesellschaft nun zwingen würden, die Sklaverei abzuschaffen, was wäre das Resultat? Krieg, Blutvergießen, Hass, Vorurteile, Armut und schließlich die Rückkehr zur Versklavung. Das ist so ziemlich das, was in den Südstaaten Amerikas passierte, als der halbindustrialisierte Norden versuchte, seine Gesetze dem landwirtschaftsabhängigen Süden aufzuzwingen und auch in Texas, als Mexiko versuchte, die englischsprachige Bevölkerung davon zu überzeugen, die Sklaverei abzuschaffen.
Keine gute Idee. Eine bessere Idee: Legen Sie der Einrichtung der Sklaverei humane Einschränkungen auf. Das ist zwar immer noch nicht ganz wünschenswert, doch in der Zwischenzeit lehren Sie die Menschen dadurch Mitgefühl und Wohlwollen. Unterrichten Sie sie, organisieren Sie Workshops. Gehen Sie mit ihnen Wildwasserboot fahren (warum sprach Abraham Lincoln ausgerechnet vom Wildwasserbootsfahren?) Denn es werden sich die Zeiten ändern und die Sklaverei von jener Gesellschaft als Anachronismus abgestempelt werden.
Was so ziemlich das ist, was mit der jüdischen Gesellschaft geschah. Zur Beachtung: Zurzeit, wo die Römer pro Einwohner tausend Sklaven hatten, hatte selbst der reichste Jude eine ziemlich bescheidene Anzahl an Sklaven. Und diese Sklaven, so beschreibt es uns der Talmud, wurden von ihren Besitzern besser behandelt als die ausländischen Bevölkerungen von ihren eigenen Königen.
Die Tora lehrt uns, durch Erziehung und aktive Beteiligung, eine liberale Gesellschaft zu führen. In der restlichen Welt bemühten sich die Kaiser und die Aristokratie lediglich, durch Unterdrückung die Menschenmassen zu beherrschen. Werfen Sie einen Blick auf das, was in Rom passierte: Als die römischen Sklaven anfingen, einen Ruhetag zu verlangen, zusammen mit anderen Privilegien und mit einer direkten, persönlichen Beziehung zu G-tt, sorgte Kaiser Konstantin dafür, dass jeder Begriff von G-ttlichen Geboten und menschlicher Würde aufgehoben wird, indem er eine verdrehte, unverständliche Version des Judentums für sein Imperium wählte. Das wird die Bevölkerung ruhig halten, dachte er sich. (Und es funktionierte, für etwa tausend Jahre.)
Die "konservativ-radikale" Stellungnahme der Tora besagt also: Arbeiten Sie mit dem Ausgangszustand, um über ihn hinauszugehen. Die Tora bezieht sich mehr auf den Prozess als auf den Inhalt.
Tiefer klettern
Sind Sie mit dieser Antwort zufrieden? Ich bin es nicht. Ich bin davon überzeugt, dass es da einen tieferen Einfluss geben muss, den die Tora anstrebt. Lassen Sie uns das "den partizipatorischen Effekt" nennen. Auch bekannt als "Erziehung".
Der partizipatorische Effekt sagt, wollen wir Menschen dazu bringen, Regeln zu beachten, müssen wir ihnen die Pistole auf die Brust setzen. Doch wenn wir wollen, dass sie lernen, wachsen, diese Regeln verinnerlichen und diese Regeln weiter zu lehren, müssen wir die Menschen in den Prozess der Festlegung dieser Regeln miteinbeziehen.
Lehrer tun das am ersten Schultag, wenn sie mit ihrer Klasse interne Richtlinien erstellen, die alle als nützlich und sinnvoll betrachten. Eltern tun das, wenn sie es ihren Kindern ermöglichen wollen, gewisse Fehler zu begehen, um von ihnen zu lernen. Eine gewandte Hausfrau tut das, wenn sie ihrem Mann das Gefühl geben will, dass er es war, der die Idee hatte, die Bodenbeläge in der Küche zu erneuern.
Im Allgemeinen sind die Frauen in dieser Strategie besser bewandert als die Männer, die es oft leichter finden, ihre Ansichten anderen aufzuzwingen und nötigenfalls sie mit ihren Argumenten zu überwältigen, bis die andere Seite sich ergibt. Alles Variationen der "altbewährten" Technik, jemandem die Pistole an die Brust zu setzen. Frauen sind physisch sowie gefühlsmäßig mehr dazu gebaut, zu hegen und zu pflegen, so dass sie ganz natürlich mehr dazu neigen, die partizipatorische Methode anzuwenden. Um Guckel von Hameln zu zitieren: "Sie war eine tapfere Frau. Sie vermochte es, das Herz ihres Mannes zu steuern."
In der Tora finden wir beide, die männliche sowie die weibliche Einstellung – wir nennen sie "die schriftliche Tora" und "die mündlich übertragene Tora". Die schriftliche Tora (im Prinzip sind das die fünf Bücher Moses, doch gehören eigentlich auch alle Propheten und Schriften dazu) legt uns das Gesetz in einer väterlichen, autoritären Stimme vor: "Das sind die Regeln. Sie sind zu eurem eigenen Besten, egal ob ihr es jetzt versteht oder nicht. Ich habe sie nur gemacht, weil ich euch so lieb habe. Wenn sie euch nicht gefallen, erinnert euch lediglich daran, dass ich um einiges größer bin, als ihr alle zusammengerechnet."
Dann kommt die Mutter von uns allen, die mündliche Tora. Obwohl die Tora viele festgelegte Traditionen enthält – einige die noch von Moses oder von noch früher her stammen – der Hauptteil der mündlichen Tora ist unsere eigene Teilnahme am Austüfteln, wie wir die Anweisungen, die G-tt uns übergeben hat, in die Praxis umsetzen. Die schriftliche Tora selbst ermächtigt uns, die verschiedenen Themen zu erörtern und dabei mehr ins Detail zu gehen, die praktische Anwendung daraus abzuleiten und dementsprechend Entscheidungen zu fällen. Zur mündlichen Tora sagte Rabbi Jehoshua ben Chanania: "Die Tora ist nicht im Himmel." Sie ist hier, in uns, in unseren Bemühungen, die tiefgründige Bedeutung der Tradition zu erforschen, die uns überliefert wurde und in unserer Fähigkeit, die Tora auf die nächste Stufe zu bringen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir frei zusammenstellen können, was uns gefällt und das Tora nennen. Es gibt genaue Richtlinien und strenge Kriterien, um zu entscheiden, ob eine neuartige Idee als Tora bezeichnet werden kann. Wir beschäftigen uns hier mit einer heiklen Ökologie, so wie wir auch zuerst die Landschaft sehr genau kennenlernen müssen, ehe wir eine Autobahn und einen Staudamm bauen können.
Doch wir können daraus folgern, wenn wir uns durch einen Gedanken der Tora durcharbeiten, uns in die Befragung dieser Idee vertiefen und unsere Kreativität fließen lassen, so werden die Gedanken, die unser Verstand produziert und die Worte, die wir reden, dasselbe sein, als wenn G-tt am Berg Sinai verkündet: "Ich bin der Ewige, euer G-tt etc."
Wenn wir uns durch einen Gedanken der Tora durcharbeiten, so werden die Gedanken, die unser Verstand produziert und die Worte, die wir reden nicht unterschiedlich sein von den Worten der schriftlichen Tora selbstOder wie es die Weisen des Talmuds ausdrücken: "Jede neue Idee, die einem qualifizierten Tora-Gelehrten in den Sinn kommt, wurde bereits auf dem Sinai Berg an Moses gegeben." Die Idee ist zwar neu, doch handelt es sich dabei trotzdem um Tora. Sie ist neu, doch bis heute war sie tief unter den Falzen und Knittern des Pakets, das Moses uns geliefert hat, versteckt. Es ist Tora und der qualifizierte Gelehrte, der die genauen Richtlinien des wahren Tora-Lernens so sehr verinnerlicht hat, bis sie zu einem integralen Teil von ihm geworden sind, öffnet lediglich dieses Paket und glättet die Falzen.
Wenn ich in diesem Fall eines Tages auf jene brillanten Tora-Ideen stoße, sind das dann meine Ideen oder diejenigen der Tora? Sie sind beides. In der mündlichen Tora werden wir eins mit G-tt.
Eine wahre Veränderung bewirken
Nun können Sie auch sehen, wo ich mit diesem Sklaventhema hin will. Wenn G-tt uns ganz einfach und eindeutig die Regeln erklärt hätte, genauso, wie Er es in dieser Welt haben will und was wir zu diesem Zweck tun sollen, würde die Tora nie für uns zur Wirklichkeit werden. Egal wie sehr wir uns anstrengten oder wie "artig" wir uns benehmen, dieser Prozess würde uns immer fremd bleiben.
So steht es auch mit der Sklaverei: Die Welt fing an von einem Ort, wo die Unterdrückung anderer Leute ohne Skrupel als völlig akzeptierte Handlung praktiziert wurde. Die Tora begnügt sich nicht damit, die äußeren Taten zu beeinflussen, sondern sie befasst sich mit unserer inneren Einstellung. Daher beteiligt sie uns am Prozess, der zu jener Einstellung führt, bis zum Punkt, wo wir sagen: "Obwohl die Tora uns das eigentlich erlauben würde, tun wir es nicht."
Das bedeutet, dass wir wirklich etwas gelernt haben. Nun können wir es anderen übermitteln. Wenn Ihnen etwas lediglich gesagt wurde, können Sie das nicht weiter lehren. Sie können nur das lehren, was Sie selbst entdeckt haben.
Die Geschichte bestätigt diese Regel. Geschichtlich gesehen war es viel mehr die mündliche Tora als die schriftliche Tora, die auf die Bevölkerung den größten Einfluss ausübte. Wie sehr auch Rom über Judäa herrschte, die jüdischen Werte verwandelten Rom regelrecht. Eine der Folgen davon waren die gesetzlichen Privilegien, die den Sklaven schließlich gewährt wurden, und die schrittweise Anerkennung der Werte menschlichen Lebens.
Die Tora beteiligt uns am Prozess, der zur richtigen Einstellung führt. Und jetzt können wir sie anderen weiter lehren. Denn wir können lediglich das weiter lehren, was wir selbst entdeckt habenFür über tausend Jahre hat es die Kirche fertiggebracht, die Botschaft des Imagio Deo – dass jeder Mensch im Ebenbild G-ttes erschaffen wurde und daher G-ttlich ist – zu untergraben, trotz der fünfmaligen Erscheinung dieses Begriffs in der Genesis-Schilderung. Es war erst zu Zeiten der Renaissance, dass ein neuer humanistischer Geist aufkam und die Idee nicht länger unterdrückt werden konnte. "Das Oratorium der menschlichen Würde" wird oft als das Manifest der Renaissance und des frühen Humanismus angepriesen. Es wurde von Giovanni Pico della Mirandola komponiert. Es ist kein Geheimnis, dass Pico bei den größten Rabbinern seiner Zeit studierte und ganz vom Buch des Sohars und der Kabbala besessen war. Es gibt viele andere solche Beispiele.
Die größte Antriebskraft in der Emanzipation der Sklaverei während der Kolonialzeit war die "Gesellschaft der Freunde", auch als die "Quäker" bekannt. Die Historiker erörtern das Phänomen der Quäker in Kontext der "Hebräisierung des Christentums". Die Anführer jener Bewegungen waren auch hier sehr tief von der Lektüre von übersetzten Kabbala-Werken und von Humanisten, die ihre Ideen aus rabbinischen Quellen schöpften, beeinflusst.
Die Geschichte der Emanzipation ist lang und kompliziert – und schrecklich umstritten. In Wirklichkeit haben Juden auf beiden Seiten dieser stacheligen Grenze wichtige Rollen übernommen. Einerseits brachte Aaron Lopez, der zum Judentum übergetreten war, auf einigen seiner Schiffe Sklaven nach Amerika. Andererseits ermöglichten der Baron Nathan de Rothschild und Sir Moses Montefiore den großen Sklavenbefreiungsakt von 1835 durch ihren Darlehnszuschuss von 20,000,000 Pfund Sterling. Im diesem Kampf setzte sich schließlich der jüdische Geist durch, und es sind jene Werte, die Maimonides unterstützte, die zu den vorherrschenden ethischen Werten unserer Gesellschaft wurden.
Ich werde diesen Artikel mit einer biographischen Skizze eines Juden, der für die Freiheit der Juden kämpfte, abschließen:
August (Anschel) Bondi wurde am 21. Juli 1833 in Wien geboren. Er war der Sohn einer jüdischen Familie, die darauf bestand, dass er eine religiöse sowie auch eine säkulare Erziehung haben soll. Nachdem sie als Beteiligte an der missglückten liberalen Revolution von 1848 ertappt wurden, flüchtete die Familie Bondi nach New Orleans und ließ sich in St. Louis, Missouri nieder. Der junge Bondi begegnete dort hautnahe den Gräueln der Sklaverei und war zutiefst angeekelt.
1855 drängte ein Leitartikel der New York Tribune freiheitsliebende Amerikaner, "schnellstens nach Kansas zu kommen, um diesen Staat vom Fluch der Sklaverei zu befreien." Bondi reagierte unverzüglich auf diese Aufforderung. Er begab sich auf den Weg nach Kansas und errichtete dort, zusammen mit zwei anderen Juden, nämlich Theodor Weiner aus Polen und Jakob Benjamin aus Böhmen, einen Handelshafen in Ossawatomie. Doch ihre abolitionistischen Ideen zogen sehr bald sklavenbefürwortlerische Terroristen an. Ihre Hütte wurde niedergebrannt und ihr Besitz gestohlen. Ihre Erwerbsquelle wurde vor den Augen der föderalen Truppen zerstört, ohne dass diese auch nur einen Finger rührten. Die drei mutigen Juden schlossen sich einem ortsansässigen, fanatischen Sklavengegner an, sowohl um ihre Bürgerrechte zu verteidigen, als auch um Kansas zu helfen, sich von den Schrecken der Sklaverei zu befreien. Diese drei Juden traten den Berufssoldaten von Kansas, unter der Führung von John Brown, bei.
In einer berühmten Schlacht zwischen den Berufssoldaten und den Sklavenbefürwortern in Black Jack Creek, als Schüsse ständig über ihre Köpfe pfiffen, wendete sich der 27 Jahre alte Bondi an seinen 57 Jahre alten Freund Weiner und fragte ihn auf Jiddisch: "Was meinen Sie jetzt?" und er antwortete: "Was soll ich meinen? Sof Odem Moves (das Ende des Menschen ist der Tod)."
Kansas trat der Union als freier Staat bei. Bondi heiratete Henrietta Einstein von Louisville in Kentucky im Jahre 1860. Ihr Haus wurde zu einer Station der Untergrund-Bahnlinie, die Sklaven nach Norden in die Freiheit schmuggelte. Als 1961 der Bürgerkrieg ausbrach, schloss sich Bondi der Unionsarmee an, wozu ihn seine Mutter ermutigte. Später schrieb er in seiner Autobiographie: "Als Jude bin ich verpflichtet, Institutionen zu unterstützen, die es allen Menschen ermöglichen, in Würde zu leben." August Bondi starb 1907 als respektierter Richter und Mitglied seiner Gemeinde in Kansas.1
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