Der Rebbe stellt fest, dass das Wort „Gebet“ die tatsächliche Bedeutung der Tätigkeit nicht widerspiegelt. Tatsächlich ist „Gebet“ sogar das Gegenteil des jüdischen Verständnisses und der damit verbundenen Erfahrungen. „Gebet“ und „Tfilla“ sind gegensätzlich ausgerichtet: Gebet ist von oben nach unten, während „Tfilla“ eine von unten nach oben gehende Bewegung darstellt.

Die unterschiedliche Richtung dieser Worte deutet auf ihre unterschiedliche Bedeutung und Konnotation hin. „Beten“ bedeutet, dass um Fehlendes gebeten und gefleht wird; d.h. es gibt etwas, was wir brauchen, aber allein nicht bekommen können. Und es gibt einen Anderen, der reicher, weiser, mächtiger ist, und dieser kann uns diese Bitte gewähren. Daher flehen wir ihn an und bitten, dass das, was für uns selbst unerreichbar ist, von „oben“ gewährt wird. Das bedeutet, dass der, dem nichts fehlt, kein Gebet braucht.

Die wörtliche Bedeutung des hebräischen Wortes Tfilla ist „Verbindung”. Tfilla stellt unser Bemühen dar, unsere Verbindung mit unserem Schöpfer zu erneuern. Jede Seele ist intrinsisch mit G-tt verbunden. Diese Verbindung bleibt auch bestehen, nachdem die Seele in den Körper geht und eine physische Existenz annimmt. Aber die Bedürfnisse und weltlichen Ablenkungen, die mit dem physischen Zustand einhergehen, verschleiern unser Blickfeld, bringen unsere Prioritäten durcheinander, unterminieren unsere Verbindung mit dem Allmächtigen und unsere Verpflichtung, dem Sinn der Schöpfung zu dienen. Daher bringen wir dreimal täglich den Fokus unseres Lebens ins Lot. Durch Tfilla sprechen wir mit unserem Schöpfer. Wir verstärken damit die ewige Verbindung unserer Seele mit ihrer g-ttlichen Quelle.

Im Tfilla bitten wir auch darum, dass der Allmächtige unsere Bedürfnisse befriedigt. Damit erkennen wir an, dass unser physisches Leben nicht getrennt von unserem geistigen Leben und nicht getrennt von unserer Beziehung mit G-tt existiert. Im Gegenteil: Unser weltliches Leben treibt diese Beziehung an und fördert sie! Wenn unsere Beziehung dazu dient, die Welt im Einklang mit G-ttes Willen zu entwickeln, dann wird durch das Physische unsere Verbindung mit G-tt nicht verdeckt, sondern das Physische erhält eine Schlüsselposition, diese Beziehung zu G-tt zu verstärken und zu vertiefen.

Somit ist das Beten um unser tägliches Brot zwar ein Teil, aber nicht der Kerngedanke von Tfilla: Vielmehr ist es der Ausdruck des Bedürfnisses, von Oben passiv Unterstützung zu erhalten. Es ist der nach oben gerichtete Fluss der Sehnsucht der Seele danach, unserem Schöpfer treu zu bleiben. Dieser Fluss nimmt das physische Selbst und seine Bedürfnisse mit sich. Er verfeinert und erhöht sie, indem er sie Teil der Seelenverbindung mit seinem Ursprung macht.