Ich gestehe, ich bin intolerant. Und manchmal anderen gegenüber voreingenommen.
Ich beurteile Menschen nach ihrem Aussehen, nach ihrem Gang, anhand ihrer Art, zu reden - und aufgrund einer unermeßlichen Fülle weiterer Bilder, die sich in meinem Geist zu ihnen zusammensetzen.
Zum Beispiel, wenn ich jemanden das erste Mal treffe, und er antwortet langsam oder hat nichts Bedeutendes zu sagen, dann kommt er in meinen "nicht so schlau"-Korb. Ist jemand am Tag, wo ich ihm zum ersten Mal begegne, nicht gut gekleidet, kommt er in meinen "unordentlich"-Korb.
Am Ende eines Tages ist ein jeder säuberlich eingeordnet in meiner mentalen Ablage: Dies ist eine nützliche Person, diese ist faul, diese ist schlau, diese dumm ... die Liste ist endlos. Am Ende ergeben sich die, mit denen ich zu tun haben möchte, diejenigen, die ich zu meinen Freunden zählen möchte und, natürlich, jene, die mir nicht willkommen sind.
Diese neue Synagoge hatte den Ruf, eine für die "guten Kreise" zu sein, für die reichen und berühmten, die wichtigen und die weltläufigenEs ist gerade etwas über ein Jahr her, dass ich in eine neue Wohnung umgezogen bin, einige Blöcke von meiner alten entfernt. In unserer bequemen Zeit kann ich nicht einenExtrablock laufen bis zu meiner alten Synagoge, also habe ich die Synagogen gewechselt, zu einer ein bisschen näher gelegenen - immerhin einen ganzen Block.
Diese neue Synagoge hatte den Ruf, eine für die "guten Kreise" zu sein, für die reichen und berühmten, die wichtigen und die weltläufigen. Also für die für meine Ablage mitdem Etikett "die höhere Gesellschaft" versehenen Leute. Ich nahm mir vor, diese Synagoge auszuprobieren, und wenn sie mir nicht gefiele, würde ich einfach die nächste nehmen (noch ein Stückchen weiter und eine Treppe rauf).
Als ich zum ersten Mal beten ging, putschte ich mich auf, in Erwartung auf egoistische, versnobte Männer zu treffen, die in traulichen Gruppen miteinander quatschten. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg zu einem freien Platz und begann meine Gebete.
Etwa 10 Minuten in das Gebet hinein, betrat ein Mann die Synagoge. Ich kannte ihn seit vielen Jahren - ein Mitglied meines "passt nicht herein"-Ordners für Aßenseiter und Sonderlinge. Er hatte es im Leben nie zu etwas gebracht, so glaubte ich wenigstens. Er wirkte verdrossen und unbeteiligt. Was machte er hier? Oder probierte er, wie ich, diesen Ort nur aus?
Einer jener "versnobten, egoistischen" Männer schlug diesem Mann auf den Rücken, ergriff seinen Arm und wünschte ihm voller Wärme "Schabbat Schalom". Der nächste Macho tauschte mit ihm einige Scherzworte, und beide lächelten. Ich war schockiert. Diese Typen waren seine Freunde?!
Als ich zum ersten Mal beten ging, putschte ich mich auf, in Erwartung auf egoistische, versnobte Männer zu treffen, die in traulichen Gruppen miteinander quatschtenWenig später kam wieder einer in die Synagoge gestromert. Er ist im "übergewichtig & anstößig"-Ordner, "passt nicht herein" ist noch gar kein Ausdruck. Er prallte und hüpfte zwischen den Wänden umher, lief herein und heraus, als wüsste er nicht, ob er bleibt oder geht. Es war ein absonderliches Schauspiel. Er war schon lang auf der Liste gelandet derer, mit denen ich nichts zu tun haben will.
Nun wohl doch entschlossen zu bleiben, wanderte er von Tisch zu Tisch, wo er jeden ansprach, aber den Austausch gleich wieder unterbrach und weiterzog, bis er schon wiederkam, und die Konversation fortührte.
Doch fiel mir auf, dass er genauso behandelt wurde wie jeder andere in der Synagoge. Jeder begegnete ihm mit Geduld und Freundlichkeit. Ich kann nicht beschreiben, wie normal diese beiden Aßenseiter und Sonderlinge in der Synagoge erschienen. Hier waren sie keine Außenseiter und Sonderlinge.
Langsam lernte ich, dass in dieser Synagoge alle gleich sind. Es gibt keine Außenseiter in dieser Gemeinschaft.
Heute schäme ich mich sehr für meine damalige Denkart. Ich machte nähere Bekanntschaft mit diesen beiden Individuen und vielen weiteren, und ich habe gelernt, dass viel mehr an Menschen dran ist, als Etiketten für meine Ablagen. Sie sind komplexe Individuen mit Gefühlen, Intellekt, Bedürfnissen und Wünschen, genau wie ich.
Vor mehreren Monaten erkrankte ein Mitglied dieser Synagoge sehr schwer. Er lag in einem vegetativen Stadium im Krankenhaus, während seine Frau und 3 Kinder ohne denBeistand von Ehemann und Vater verblieben. Es war in jeder Hinsicht eine fürchterliche Situation. Auch dieser Mann war früher in meinem Ordnersystem gelandet, abgelegt unter "hat es nie geschafft".
Was passierte, als die Erkrankung des Mannes bekannt wurde, erstaunte mich. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Täglich besuchten Mitglieder der Synagoge den Mann im Krankenhaus. Viele waren stark engagiert bei den finanziellen Aspekten der Erkrankung. Wann immer wir uns sahen, war er ein Thema. Die Mitglieder der Synagoge sprachenfortwährend Gebete für ihn. Sie bereiteten Mahlzeiten für seine Familie. Es ist nicht leicht, angemessen den tiefen Verantwortungssinn zu beschreiben, den sie fühlten - so, alswären sie alle seine Brüder.
Er ist letzte Nacht gestorben. Der Verantwortungssinn und die Liebe innerhalb der Gemeinde färbte auf mich ab, und ich wollte das Haus des Verstorbenen besuchen und den Leichnam auf seinem Weg zum Friedhof begleiten. Ich weiß nicht, warum - vielleicht, weil ich dachte, die meisten könnten sich den Tag nicht frei nehmen.
Ich war etwas zu früh dran, nahm an, ich wäre der erste. Ich war überrascht, inzwischen nicht mehr schockiert, bereits viele Mitglieder der Synagoge im Haus des Verstorbenenvorzufinden. Es waren keine Leute dabei, die ich unter "arbeitslos" hätte einordnen können. Im Gegenteil, es waren tüchtige Geschäftsleute. Und während die Zeremonie näher rückte, kamen immer mehr Leute hinzu.
Viele kamen mit zum Friedhof, eine halbe Stunde Fahrt von Brooklyn. Als wir da standen, sah ich mich um. Viele haben den Brauch, dass alle Parzellen und Grabsteine gleich sein sollen. In der Lubawitscher Gemeinde wird dies strikt eingehalten.
Die Erkenntnis ging mir auf, dass hier alle gleich seien. Die reichen und berühmten kriegen keinen größeren Stein als die armen und unglücklichen. Hier wird man nicht einsortiert, genau wie man in meiner neuen Synagoge nicht einsortiert wird. Alle werden gleich behandelt im Tode; und so sollten sie auch im Leben behandelt werden.
Ich habe eine Menge nachgedacht und mental abgeladen auf meinem Heimweg vom Friedhof. Als ich zu Hause ankam, war meine innere Ablage schon viel, viel leerer, und ichhabe die Absicht, dass das so bleibt.
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