Gemäss seiner Tradition wird jeder Jude von zwei allgemeinen Seelen "betätigt": Die erste ist die Menschliche Seele oder Lebenskraft. Sie belebt die grundliegenden für die elementaren Funktionen des Körpers verantwortlichen Komponenten des Menschen. Da sie sich um das physische Wohlergehen des Körpers sorgt, ist ihre Arbeitsweise sehr instinktiv, so dass sie mit "tierischen" Verlangen, bei dem sich Menschen nicht von Tieren unterscheiden, in Verbindung gebracht wird, um die Selbsterhaltung zu sichern. Die von der Lebenskraft stammenden Eigenschaften können daher von Hedonismus, Überheblichkeit, Selbstsucht, Zorn, Gedrücktheit bis hin zu natürlicher Liebenswürdigkeit und Güte variieren.

Die zweite Seele ist die G-ttliche Seele, von der alle überweltlichen, selbstlosen und spirituell motivierten Qualitäten stammen. Die Seele ist weiterhin in fünf Ebenen aufgeteilt, von denen jede die Kraftquelle verschiedener Aspekte und Funktionen der jeweiligen Person darstellt:

Nefesch ist die grundlegendste, die physische Existenz belebte Lebenskraft und steht mit dem Blut in Verbindung. Die Brücke zwischen dem körperlosen Dasein dieser Lebenskraft und dem konkreten Blutplasma sind die äußerst schwachen Dämpfe, die aus der Hitze des Blutes hervorgehen.

Ruach ist das Betriebssystem unserer Emotionen.

Neschama steuert unseren Intellekt.

Chaja ist die Basis unseres Willen und unseres Verlangens.

Jechida ist die Verbindung zur Quelle allen Lebens und allen Seins, – der Schöpfer gesegnet sei Er.

Nun mag das ein bisschen verwirrend klingen: Zuerst ging es um zwei Seelen und plötzlich gibt es fünf Ebenen. Der Mensch hat auf jeder Ebene die Wahl, entweder den Bedürfnissen der Menschlichen oder denen der G-ttlichen Seele entgegenzukommen. Der Mensch kann seine Lebenskraft für die Ausführung der Mizwot (G-ttliche Gebote) oder für Extravaganzen seines physisches Daseins einsetzen. Er hat die Möglichkeit, seine Emotionen zu steuern oder für einen unbedachten, Schaden anrichtenden Moment einzusetzen. Es steht dem Menschen frei, seinen Intellekt für Gutes einzusetzen und den Bedürfnissen seiner G-ttlichen Seele entgegenzukommen. Ein hoher IQ schafft noch keinen ethischen Menschen. Auch große Ganoven haben "helle Köpfe". Der Mensch kann sich - was die Steuerung der Emotionen betrifft - bemühen, sich nur auf G-ttes Anforderungen zu konzentrieren, so dass er möglichst nie etwas den G-ttlichen Geboten Widersprechendes begehrt.

Die beiden Seelen, die den Menschen betätigen, drücken sich in unseren Gedanken, unserer Sprechweise und unserer Handlung aus. Wir unterscheiden menschliche Handlungen, die automatisch erfolgen, wie z.B. Herzschlag, Atmung, während andere Handlungen vorsätzlich in Gang gesetzt werden. Die Befehlskette einer Handlung beginnt in unserem den Willen aktivierenden Verlangen. Dies erzeugt durch unseren Verstand eine Gefühlsregung und damit einen Gedanken, der sich in Worten oder Taten äußert.

Im Idealfall sollte der Verstand die Emotionen und das ganze Verhalten des Menschen, das daraus resultiert, lenken. Tatsächlich ist das nur bei einer Minderheit der Bevölkerung der Fall. Warum würden sonst die Werbeagenturen so viel Geld investieren, um uns auf hirnlose Weise von Kauf eines gewissen Produkts zu überzeugen, wenn sie sich nicht über ihren Einfluss auf den Zuschauer sicher wären? Selbst jene nicht strikt nach intellektueller Überlegung handelnde Menschen können auf die Verhaltensweise einwirken: Wir können unsere äußerlichen Verhaltensmuster, die durch unsere Gedanken, unsere Sprechweise und unsere Handlungen zum Ausdruck kommen, verändern, indem wir uns direkt mit der Handlung befassen oder uns auf den Ursprung jener Handlung konzentrieren. Wenn wir z.B. fühlen, dass wir zornig werden, können wir die Zähne zusammen beißen oder versuchen, uns mit einer kalten Dusche zu beruhigen, um einen potentiellen Ausbruch der Symptome zu vermeiden. Oder wir können eingehend betrachten, wo genau sich in der Befehlskette der Gedanke gebildet hat, der uns die Idee vermittelt, dass zornig zu werden in der gegebenen Situation gerechtfertigt ist.

Die Vorteile der letzteren Betrachtungsweise sind wohl offensichtlich, da wir dadurch die Symptome nicht nur aufhalten, sondern regelrecht aufheben. Da das Finden dieser Wurzeln ein sehr schwieriger Prozess sein kann, der auch durch eingehende Betrachtung nicht immer gelingt, schlägt uns die Tora noch eine weitere Verfahrensweise vor.

Die Methode der Tora zur Verhaltenskorrektur

Wie können wir unseren inneren Umschalter, der Handlungsquelle steuert, identifizieren? Und haben wir überhaupt die Möglichkeit zum Lenken und Beeinflussen?

Wir sehen, dass der Mensch nicht nur nach seinem Verstand und evtl. gefühlsbedingten Varianten, wie z.B. Gewohnheiten, Vorlieben, Kulturangehörigkeit, Erziehung handelt, sondern auch maßgebend diese beim Treffen einer Entscheidung einsetzt. Wir wissen selbst, mit wie viel Leichtigkeit wir gute Vorsätze machen und wie selten es uns gelingt, diese auch einzuhalten. Verhaltensmuster, ob sie nun angeboren oder angelernt sind, können eigentlich als "Sucht" bezeichnet werden. Während manche Sucht chemisch oder psychologisch begründet ist, treten andere Süchte als Folge von Regelmäßigkeit und Wiederholung auf.

Erfolgreiches Diäthalten ist deshalb mit mehr Schwierigkeiten als der Entzug von Drogen oder Alkohol verbunden, weil wir diese im Gegensatz zum Essen vollständig aus unserem Leben verbannen können. Das Essen hingegen ist ein lebensnotwendiger Alltagsbestandteil, den wir nicht einfach weglassen, sondern nur durch grundlegende Veränderung unserer Lebensweise beikommen können.

Wir wissen um die Nutzlosigkeit, die Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol nur durch eine Mäßigung ihres Verbrauchs kurieren zu wollen. Jedoch können wir die meisten der zu korrigierenden Verhaltensweisen und Charakterzüge nicht vollständig entfernen. Wenn wir z.B. nicht mehr über unsere Mitmenschen klatschen möchten, müssen wir nur unsere Kommunikationsgewohnheiten ändern, denn mit dem Sprechen vollständig aufzuhören, - das können wir nicht!

Die zu bevorzugenden Methode für die Korrektur einer bestimmten Verhaltensweise bedeutet, dass wir das Problem an der Wurzel anpacken und erst einmal versuchen, die Quelle dieser Verhaltensweise ausfindig zu machen.

Die Tora lehrt uns, dass wir von zwei allgemeinen Seelen betätigt werden: Die Menschliche und die G-ttliche Seele. Diese beiden haben verschiedene Ziele, und jede von ihnen versucht, den Menschen in die Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse einzubeziehen.

Der spirituelle Teil des Menschen kann auf ähnliche Weise verstärkt werden, wie der physische Körper. Wollen wir gewisse Muskeln entwickeln, wiederholen wir viele Male eine bestimmte Übung, - und so geschieht es auch mit unserem Inneren. Das vermehrte Wiederholen spiritueller Handlungen gewöhnt den Menschen, sich auf G-ttlich gesteuerte Weise zu verhalten.

Die Menschliche Seele versucht den Menschen davon zu überzeugen, sich den Wünschen seines physisches Daseins zu widmen, die auf sofortige Zufriedenstellung kurzfristig orientierter Resultate drängen. Hingegen kann die Macht der G-ttlichen Seele nur durch spezielle Anweisungen gestärkt werden, denn sie beginnt ihren Lauf unter „unfairen“ Bedingungen, die dem Menschen seine Bedürfnisse zu erkennen sehr erschweren. Von Geburt an dominiert die Menschliche Seele, während die G-ttliche Seele noch gar nicht wahrgenommen wird. Deswegen schenken wir unseren physischen Bedürfnissen größere Aufmerksamkeit, wie z.B. Essen, Schlafen, Spaß haben, Spielen. So werden alle Fertigkeiten, die dem Neugeborenen in seinem zarten Alter zur Verfügung stehen, wie z.B. Intellekt, Emotionen mit nicht zu überhörendem akustischen Ausdruck, ausschließlich dazu verwendet, die Wünsche der Menschlichen Seele zu befriedigen.

Die G-ttliche Seele beginnt erst später, den Menschen zu bewohnen, und vollendet ihren Durchbuch in dessen Wesen, wenn er oder sie Bar Mizwa oder Bat Mizwa wird. Diese Seele hat es daher schwerer, ihren Gastgeber auf sich aufmerksam zu machen, nachdem sie ihren Kampf in einer äußerst benachteiligten Ausgangsposition beginnen musste. Die G-ttliche Seele kommt erst zu Wort, nachdem sich der Mensch schon 12 oder 13 Jahre daran gewöhnt hatte, nur auf die Menschliche Seele zu hören, - und die ihn ausschließlich zur Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse inspirierte.

Wir fragen uns zwar, was daran schlecht sein soll, wenn sich ein Mensch um seine physischen Bedürfnisse kümmert, wie es jeder gute Bürger tun sollte.

Doch in dieser Frage liegt der Unterschied zwischen Mensch und Tier: G-tt hat uns eine G-ttliche Seele gegeben und erwartet von uns, sie zum Ausdruck zu bringen, um dadurch überhaupt erst zum Menschen zu werden. Der originale Tanja-Text spricht nur von der "Tierischen Seele", weil sie beim Menschen wie beim Tier das gleiche Ziel der Sicherung des physischen Daseins verfolgt. Da der Ausdruck "Tierische Seele" zu grob klingt, wurde hier der Ausdruck "Menschliche Seele" bevorzugt. So ergibt sich die wortspielerische Aussage, dass zu seiner Menschwerdung der Mensch die G-ttliche Seele über die Menschliche Seele stellen muss.

Wie die Wunscherfüllung der Menschliche Seele in uns ein spezielles, uns als "Mensch" auszeichnendes Verhalten bewirkt, verstärkt das Handeln gemäss den Anliegen der G-ttlichen Seele den G-ttlichen Einfluss auf die Persönlichkeit - und genau das verleiht dem Menschen seine G-ttliche Würde. Die "Anliegen" der G-ttlichen Seele sind das Befolgen von G-ttes Anweisungen: Es sind spirituelle Taten, Mizwot (Tora-Gebote). Wenn wir eine Mizwa ausführen, benutzen wir die Menschliche Seele zum Umsetzen dieser Mizwa in der physischen Welt, d.h. wir unterwerfen den Willen der Menschlichen Seele den Bedürfnissen der G-ttlichen Seele.

Wenn die G-ttliche Seele die Führung übernimmt, zeichnet sich auch die Verhaltensweise des Menschen mit einer besonderen Reinheit aus. Spirituelle Akte gewöhnen den Menschen daran, eine G-ttliche Erhabenheit anzunehmen.

Am Berg Sinai gab uns G-tt die Möglichkeit, ein Gebot so auszuführen, dass die natürliche Befehlskette "auf den Kopf gestellt wird". Vor der Tora-Übergabe am Berg Sinai begann unser Vorvater Abraham den Prozess seiner spirituellen Entwicklung auf "natürliche" Art, indem er die Welt aus intellektueller Sicht eingehend zu betrachten begann. Maimonides sagt, dass Abraham sich über das Universum wunderte, über die Welt fünfzig Jahre nachsann und schließlich erkannte, dass es einen Schöpfer geben muss. Abraham belehrte die Welt über die Existenz G-ttes durch Veröffentlichung seine Ermittlungen und Schlussfolgerungen. Doch erst im 99. Lebensjahr wurde ihm das G-ttliche Gebot zum physischen Akt übermittelt: Als G-tt Abraham bat, sich zu beschneiden.

Die Tora bietet uns ein Umkehrverfahren für die Hierarchie der natürlichen Befehlskette an: Anstelle des Versuchs, uns durch eingehende Betrachtung (Gedanke) zu motivieren (Sprechweise), das Richtige zu tun (Handlung), nennt uns die Tora direkt die erwünschte Tat (Mizwa). Durch ihre Ausführung (Handlung) werden wir darauf aufmerksam, dass uns diese Tat sehr anspricht (Sprechweise) und schlussfolgern, das Richtige getan zu haben (Gedanke). Diese Umkehrung der Befehlskette kommt am stärksten in jenem Bekenntnis zu Ausdruck, das die Israeliten am Berge Sinai ablegten: "Wir werden tun und (dann) werden wir verstehen." Der jüdische Lebenszyklus beginnt mit Taten: Im Alter von acht Tagen wird ein Junge beschnitten. Sobald das Kind "Mama" oder "Papa" sagen kann, lernt es Verse aus der Tora. Aber erst mit zunehmende Reife beginnt das Kind, die Bedeutung der Tora zu entschlüsseln und die entsprechenden Emotionen mit Worten in Verbindung zu bringen. Der bedeutungsvolle Fortbestand des jüdischen Volkes ist der Beweis für die Effizienz dieser Methode. Der Akt der Ausführung der Gebote ist das kritische Element, das auf unser innerstes Wesen einwirkt und so unser Verhalten beeinflusst.