Ich hatte einmal eine G-ttliche Offenbarung.
Es war am heiligen Rosch Haschana (Jüdisches Neujahrsfest). Ich war an diesem sehr nassen Morgen nicht in der Synagoge, sondern im Krankenhaus, und zwar auf einer sterilen, deprimierend geriatrischen Reha-Station. Einige alte Bubbies (...) hatten sich versammelt, um Schofar (Widderhorn), das am Neujahrstag geblasen wird, zu hören.
Ich blase jedes Jahr Schofar in Krankenhäusern. Und jedes Jahr weint mindestens einer.
Dieses Jahr war eine Bubbe dabei, die nicht so alt zu sein schien. Sie war sehr lebendig. Das Schofar animierte sie und so sprachen wir über ihre Kindheitserinnerungen. Ihre Vergangenheit schien für sie wiedererweckt zu sein. Sie war in chassidischer Wärme und Lebendigkeit aufgewachsen, die sie noch nicht einmal hier in Vancouver verlassen hatte.
Sie sagte den Segensspruch und ich begann, das Schofar sanft, aber klar zu blasen. Sie brach in Tränen aus. Daran bin ich schon gewöhnt und mache einfach weiter. Aber danach erschien es mir, dass ganz offensichtlich G-tt im Zimmer war, denn sie sprach mit Ihm:
„Oi, sisser G-tt! Teire, sisse G-tt! Mein sisse G-tt!“
Sie weinte und hielt G-tt in ihren Händen: Hände einer alten Bubbe, die einen unendlichen, zeitlosen G-tt hielten.
Sie nannte ihn „siss“. Ich hatte das noch nie vorher gehört. „Siss“. Ich kannte es in bezug auf Süßigkeiten und Enkelkinder. Die Psalmen Davids und das Lied der Lieder nennen den Allmächtigen so. Aber das war eine alte Bubbe. Ihre Stimme hörte sich so liebevoll und mitleidvoll an, aber auch ehrfürchtig. Sie weinte vor Trübsal, Freude, Schmerz, Sehnsucht ..., aber ihre Worte waren süß und ekstatisch.
Ich kann ihre Worte nicht übersetzen, denn im Deutschen sprechen wir vom „lieben G-tt“, und nicht vom „süßen G-tt“. Es würde ungehörig klingen.
Im Deutschen spricht eine Ehefrau anders mit G-tt, als mit ihrem geliebten Ehemann, der auf eine weite Reise geht und nicht weiß, ob er zurückkommen wird. Und nun war G-tt auf einmal in unseren Armen und wir sprachen mit ihm, wie eine Mutter mit ihren kleinen süßen Kindern spricht, oder wie eine Tochter mit ihrem Vater, bei dem sie sicher ist, weil er sie niemals verlassen wird. All dies empfand ich auf einmal. Im Deutschen lässt es sich nicht ausdrücken, aber im Jiddisch ihrer Kindheit konnte sie es sagen.
Das Weinen der alten Frau machte meine tiefgreifendsten philosophischen Überlegungen zunichte, - wie ein Kind Seifenblasen zerplatzen lässt, wie Schatten, die in der Sonne verschwinden. Meine Ideen hatten plötzlich keine Bedeutung mehr für mich, denn hier war G-tt: Tatsächlich! Das hier - das war Offenbarung: Etwas, was die alten Bubbes damals „da drüben“ noch hatten, - und was uns verloren ging, - fast ...
Ich musste zur Synagoge. Die alte Frau war noch immer voller Tränen. Da merkte ich, dass ich lächelte. Nun wirst Du mich für unsensibel halten, aber ich konnte nicht anders. Diese tiefe, aufbauende Freude kam von innen.
Ich werde es nie vergessen: Je mehr sie weinte, umso mehr war ich voller Freude. Warum sollte ich nicht glücklich sein, - hatte ich doch gerade G-tt gesehen. Unseren sissen G-tt.
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