Frage: Lassen Sie uns zunächst mit der Frage des Sexismus befassen. Glauben Sie ernsthaft, dass es im jüdischen Leben keinen Sexismus gibt?

Slonim: Es ist nicht weise, Begriffe, die einen festgelegten Sinn und eine feststehende Bedeutung in einer Gesellschaft haben, auf ein anderes Glaubens- und Denksystem zu übernehmen, das ganz und gar anders ist. Das ist der Fall bei dem Wort Sexismus. Mit dem Auge der westlich gesellschaftlichen Werte betrachtet, bei denen die unveräußerlichen Rechte eines Individuums heilig sind, und der gleichberechtigte Zugang und Gleichberechtigung bei den Möglichkeiten die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind, kann das Judentum auch sexistisch erscheinen. Im Vergleich zu der Gesellschaft insgesamt, wo der Kampf um Macht und Kontrolle - oft zwischen Männern und Frauen – eine große Rolle spielt, mag das Judentum aus dem Takt scheinen. Doch diese Art der Betrachtung ignoriert die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Leben im Allgemeinen und dem jüdische Leben. Im jüdischen Leben geht es nicht um Rechte oder Macht oder den Zugang. Es geht darum, den Bund zwischen G-tt und jedem Einzelnen sowie G-tt und dieser Welt zu verwirklichen.

Die Tora lehrt, dass der eigentliche Zweck unseres Lebens – für Männer und Frauen - ist, das Universum mit G-ttlichkeit und Spiritualität zu füllen. Das tun wir, indem wir jede unserer Handlungen mit Heiligkeit anfüllen, indem jede Gelegenheit ergriffen wird, den g-ttlichen Funken, der jedem Aspekt der Schöpfung inne ist, freizusetzen. Es gibt einen Namen für dieses Vorgehen: Mizwot. Das ist die Definition des jüdischen Lebens. Zweifellos haben die Frauen die gleichen Pflichten und Rechte, G-ttes Plan für diese Welt zu verwirklichen. Ebenso klar haben sie ihre eigenen Stärken, Ausdrucksweisen und Aufmerksamkeitsschwerpunkte.

In der Theorie klingt eine egalitäre Gesellschaft wie das ideale Gegenmittel gegen Sexismus. Im wirklichen Leben ist es jedoch weder vertretbar noch im entferntesten befriedigend. Ein Körper braucht jedes seiner verschiedenen Organe. Familien bestehen aus verschiedenen Einheiten. Eine Partnerschaft braucht unterschiedlichen Stärken. Eine lebensfähige Institution ist von Menschen abhängig, die ihr auf verschiedenen Gebieten dienen. Die Welt braucht Männer und Frauen. Ein Verwischen dieser Linie tut niemandem einen Gefallen.

Es gibt Sexismus im täglichen Leben überall um uns herum, und das jüdische Gemeindeleben ist sicherlich nicht unbefleckt. Es gibt sexistische Personen, Komitees, Institutionen usw., und wir müssen uns weiterhin Gedanken machen und üben, bis das nicht mehr der Fall ist. Aber das System des Lebens der Tora ist nicht sexistisch. Es bietet, ja fordert, dasselbe von Männern und Frauen: die Erfüllung des g-ttlichen Willens.

Ich sehe mich als eine Feministin. Die grundlegende Aufgabe des Feminismus ist, die Lüge, Frauen seien weniger wichtig als Männer, aufzudecken und sie auf allen Ebenen zu bekämpfen. Viele Frauen befürchten insgeheim, dass es die Wahrheit sein könne. Eine Frau, die sicher ist, dass ihre Stellung und Funktion von G-tt bestimmt wurde, und dass das spirituell genauso wichtig ist, wird nicht von diesen Zweifeln geplagt. Sie erkennt ihre Weiblichkeit als Stärke, ist sich ihres Wertes bewusst und nutzt ihre Kräfte voll aus.

Jüdische, weibliche Spiritualität ist eine komplexe und delikate heikle Studie. Mein Buch, Total Immersion1, ist bestrebt, einen Bereich des jüdischen Rituals herauszustellen, der immer den Frauen gehörte. Und zwar in einer Weise, die zum ersten Mal ein tiefes, inniges Durchdringen durch das Prisma ihrer eigenen Erfahrung bietet. Die Mikwe bietet einen nahezu einzigartigen Ort für Spiritualität und Selbstwachstum und hat viele jüdische Heldin hervorgebracht. Der Band ist mit einer Montage unglaublich kraftvoller Bilder gefüllt: die körperlich behinderte Frau, die trotz aller Widrigkeiten eintaucht, die Frauen in Santa Fe, die zäh einer Mikwe mit bloßen Händen erbauen, die Frau im totalitären Russland, die sich in einen eiskalten Brunnen taucht, die Frauen in Schweden, die ihre Fahrt unterbrechen und tapfer die scharfkantigen Felsbrocken ertragen, um im Meer einzutauchen. Sind diese Frauen gleich? Die Frage lautet besser: Wer ist ihnen gleich?

Frage: Wir wissen, dass uns oft die Worte fehlen, wenn es um esoterische Themen geht. Aber können Sie versuchen zu erklären, vor allem für die Skeptiker, was „spirituelle Unreinheit” ist? Und ist es etwas, das auf Treu und Glauben akzeptiert werden muss, oder gibt es eine rationale Grundlage für den Glauben?

Slonim: Die Gesetze der Unreinheit, Nidda und Mikwe, sind entschieden supra-rationale Vorstellungen. Wir sprechen hier von Statuten, die auf der Grundlage des Glaubens zu beachten sind. In dieser Hinsicht sind wir alle Skeptiker. Aber es gibt ein paar Dinge zu diesem Thema zu sagen.

Es ist von entscheidender Bedeutung, den Mythos zu zerstören, dass Reinheit der religiöse Begriff für sauber und Unreinheit der dies begleitende Begriff für schmutzig sei

Es ist von entscheidender Bedeutung, den Mythos zu zerstören, dass Reinheit der religiöse Begriff für sauber und Unreinheit der dies begleitende Begriff für schmutzig sei. Unreinheit ist weder konkret noch erkennbar. Es ist ein geistiger Zustand. Wenn wir die Schrift öffnen, sehen wir, dass die Tora deutlich die spirituelle Reinheit zu einem Requisit für den Zugang zum Bereich des Heiligen macht. Zu biblischen Zeiten und während der Zeit des Zweiten Tempels stand das Zusammenspiel von Reinheit und Unreinheit im Mittelpunkt des jüdischen Lebens. Das Betreten heiligen Raumes – zuerst des Tabernakels und später des Heiligen Tempels – war von der spirituellen Reinheit einer Person abhängig. Heutzutage wird dieses Gesetz nur noch im Rahmen der heiligen Vereinigung zwischen Mann und Frau angewandt. Denn jetzt, bis der heilige Tempel wieder aufgebaut wird, ist es unser Schlafzimmer, in dem wir den heiligsten aller heiligen Schreine errichten. Das Eintauchen in die Mikwe ist das Tor zum heiligen Boden der Ehe.

Das Judentum lehrt, dass die Quelle aller tahara, oder Reinheit, das Leben selbst ist. Umgekehrt ist der Tod der Vorbote der tuma, oder Unreinheit. Alle Arten ritueller Unreinheit - und die Tora beschreibt viele – finden ihren Ursprung in der Abwesenheit von Leben oder einem gewissen Maß – selbst einem Hauch – von Tod.

Wenn wir es auf den Kern reduzieren, signalisiert eine menstruierende Frau den Tod eines möglichen Lebens. Jeden Monat bereitet sich der Körper einer Frau für die Möglichkeit der Empfängnis vor. Die Gebärmutterschleimhaut wird in Erwartung einer befruchteten Eizelle aufgebaut. Die Menstruation ist das Ablösen dieser Schicht, das Ende dieser Möglichkeit. Das Vorhandensein möglichen Lebens im Körper einer Frau erfüllt ihn mit Heiligkeit und Reinheit. Bei seiner Abwesenheit setzt Unreinheit ein, was die Frau in einen Zustand der Unreinheit, die sogenannte niddut, versetzt. Die Unreinheit ist weder böse noch gefährlich. Sie ist einfach die Abwesenheit von Reinheit, so wie die Dunkelheit die Abwesenheit von Licht ist. Nur das Eintauchen in die Mikwe hat die Macht, dies zu ändern.

In diesem Licht betrachtet sind die Gesetze der Nidda und Mikwe weder sexistisch noch frauenfeindlich. Sie sind einfach von G-tt geschaffene Zyklen des Seins.

Frage: Das Argument ist oft, dass sich für ein Ehepaar durch die Einhaltung der Rechtsvorschriften der Familienreinheit ihr Sexualleben verbessert und dadurch „jeder Monat zu Flitterwochen“ wird. Glauben Sie, dass das wahr ist? Denken Sie, das ist der Zweck der Gesetze?

Slonim: Bei der Beantwortung Ihrer Frage möchte ich vorsichtig sein, einerseits die Einhaltung nicht zu über-romantisieren und andererseits deren einzigartige und sehr reale Wirkung auf das Sexualleben und die gesamte Beziehung eines Paares nicht zu minimieren. Die Einhaltung der Familienreinheit ist kein Allheilmittel oder Zaubertrank. Eine gesunde Ehe aufzubauen ist harte Arbeit und ein vielschichtiges Unterfangen.

Aber ich denke, es ist richtig, dass die Einhaltung der Mikwe ein gewisses Element der Aufregung, Erneuerung und Achtung die Ehe bringt, das sonst möglicherweise nicht vorhanden wäre. Es ist kein Geheimnis, dass die Gesellschaft insgesamt kontinuierlich mit geschlechtsbezogenen Fragen kämpft. Für einen großen Teil der Paare ist das Problem schlicht und einfach Langeweile. Die Mikwe trägt viel zur Linderung dieses scheinbar gutartigen, aber sich einschleichenden Zustands bei. Sie bringt die Dynamik der Erwartung - fast ein Kitzeln - und ein höheres sexuelles Bewusstsein, das häufiger mit dem Umwerben als mit der Ehe in Verbindung gebracht wird. Und das jeden Monat, jahrelang. Sie bringt Paaren eine bessere gegenseitige Wertschätzung, wenn sie sich nach einer Vereinigung sehnen, die so nah und doch so unerreichbar ist. Sie trägt viel zu der Art bei, wie sie ihren Momenten des Wunschs nach Intimität entsprechen und lindert den Machtkampf, der so viele Beziehungen plagt. Kurz gesagt, ein Mann und eine Frau, die sich lieben und nicht über unendliche Möglichkeiten verfügen, intim zu werden, werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Zeit, die sie für sich gemeinsam haben, für selbstverständlich ansehen und viel eher bereit sein, jede Gelegenheit für körperliche Liebe und Gemeinsamkeit maximal nutzen.

Vielleicht ist das wichtigste Geschenk ein Ergebnis der geforderten körperlichen Trennung. Die Mikwe-Verordnung zwingt Paare dazu, Wege zu finden, Liebe, Fürsorge und Besorgnis ohne ständigen Körperkontakt auszudrücken. Zwei Wochen lang müssen sie eine fast verlorene Form der Kunst vervollkommnen: Kommunikation. Wenn körperlicher Intimität nicht möglich ist, werden sie in eine tiefe Freundschaft katapultiert, die wiederum nur helfen kann, die Leidenschaft zu schüren, diese dann freisetzen, wenn sie sich wieder sexuell in die Arme schließen.

Was den Zweck dieser Gesetze betrifft, verbindet der Talmud bessere eheliche Harmonie und Glückseligkeit mit diesen Gesetzen, und es ist ein Phänomen, das sich Labor des Lebens bestätigt. Dennoch muss es nicht für jedes Paar zutreffen. Deshalb sind meine letzten Worte zu diesem Thema, dass wir nie das ultimative Ziel oder den Grund für G-ttes Gebot ergründen können.

Frage: Haben Sie jemals daran gedacht, dass Rituale wie Mikwe nette Erfindungen der Menschen sind, und keine g-ttlichen Gebote? Die Tora als von G-tt geschrieben zu akzeptieren ist für viele Menschen ein großer Schritt.

Slonim: Klar, die Akzeptanz des g-ttlichen Ursprungs der Tora ist ein großer Schritt, und jeder von uns muss diesen Schritt für sich selbst machen. Tatsache bleibt jedoch, dass es gerade und nur dieser Glaube ist, der der Mikwe und den anderen Ritualen Wert und Bedeutung verleiht. Während einige von uns die Rituale sehr schätzen und dabei Schichten an Bedeutungen und sogar Wohltat und Freude bei deren Einhaltung finden, ist es letzten Endes die Verpflichtung gegenüber dem Wort G-ttes, die die Einhaltung gewährleistet. Ohne diese zugrunde liegende, absolute Voraussetzung würde die Einhaltung wahrscheinlich einen sporadischen, nicht verbindlichen Charakter annehmen und würde je nach Zeit, Umständen und Laune variieren.

Um die Mikwe als Beispiel zu nehmen: Das Eintauchen in ein Wasserbecken, um spirituelle Reinheit, nicht körperliche Hygiene, zu bewirken, ist per Definition eine irrationale, unerklärliche Handlung, wohl kaum eine schöne menschliche Erfindung. Für jede Frau, die mit begeisterten Worten über das Eintauchen spricht, die ein Gefühl der Erneuerung und Spiritualität beschreiben, gibt es eine, die entweder Wasser fürchtet oder verabscheut, die Vorbereitung zu strapaziös findet und/oder die die ganze Sache als Unbequemlichkeit ansieht. Die etwa zwei Wochen der Abstinenz, die zur Mikwe-Disziplin gehören, stehen im Gegensatz zum menschlichen Instinkt und Verlangen, auch wenn sie Paaren deutliche Vorteile bieten. Es kann schwerlich als „nett“ bezeichnet werden, noch ist es ein gutes Gefühl, körperlich von Ihrem geliebten Partner entfernt zu werden. Doch der Jude, der sich verpflichtet, folgt den Gesetzen unter absolut allen Umständen.

Das Buch Total Immersion enthält die bisher größte Zusammenstellung von Berichten aus erster Hand, Geschichten und Erzählungen zum Thema Mikwe. Ich glaube, dass die vielen Berichte der Selbstaufopferung auf Seiten der Frauen, die - in der ehemaligen Sowjetunion, im Ghetto und auch im heutigen Amerika - die Mikwe trotz unglaublicher Schwierigkeiten einhalten, den stärksten Teil meines Buchs ausmachen. Diese Geschichten des Glaubens und dessen unerschütterlicher Ausdruck haben mich tief berührt, und ich weiß, dass sie auf die Leser in gleicher Weise wirken werden.