Wenn wir einen Einblick in die Erlebnisse unserer Vorväter, die sich vor Jahrtausenden ereigneten, gewinnen wollen, sind Geschichten sicherlich ein geeignetes Mittel dazu. Sie ermöglichen uns, einen lebendigen Eindruck von unserem spirituellen Erbe zu bekommen, der uns dazu inspiriert, auch unsere eigene Situation als Juden lebendiger zu gestalten.

Wie viele Wege gibt es, eine Geschichte zu erzählen?

Der herkömmliche Weg ist, es in Worten zu tun und die Geschichte, die wir am Seder-Abend erzählen, bildet dabei keine Ausnahme. Das Hauptziel des Seders besteht im Weitergeben der Geschichte der Versklavung unserer Vorväter und ihrer Befreiung aus Ägypten an die nächste Generation. Das Wort "Haggada" bedeutet "Erzählung".

Doch der Pessach-Seder lehrt uns einen Weg, dieselbe Geschichte auch ohne Worte zu erzählen.

Auch Nahrungsmittel können sprechen, und am Seder besteht der Zweck eines großen Teils unseres Essens nicht unbedingt darin, es zu genießen, sondern uns beim "Integrieren der Geschichte" behilflich zu sein.

Jedes dieser speziellen Seder-Nahrungsmittel ist ein Symbol, das uns gewisse Kern-Ideen in Erinnerung ruft: Wenn wir uns auf diese Symbole in unserer Haggada beziehen und sie im Verlauf der Erzählung zu ganz bestimmten Zeitpunkten essen, verstärken diese in uns jene die Pessachbotschaft ausmachenden Leitbilder.

Die Hauptthemen zu Pessach sind Versklavung und Freiheit. Es heißt oft, Pessach sei die Zeit, um Freiheit zu feiern. Doch das ist unkorrekt.

Zu Pessach feiern wir in Wirklichkeit den Übergang von Versklavung zu Freiheit und genau dieser Übergang wird uns durch jene besonderen Nahrungsmittel, die sich an jenem Abend auf der Pessach-Platte befinden, erklärt, da sie mit beiden Begriffen in Verbindung stehen – mit Sklaverei und mit Freiheit.

Wein

Der Seder beginnt, mit einem Kiddusch, der über dem Wein gesagt wird, - über rotem Wein, da er die Farbe des Blutes darstellt. Blut ist offensichtlich mit Sklaverei verbunden, da unsere Vorväter blutiggeschlagen wurden und Pharao pflegte, sich zweimal täglich im Blut von 150 ermordeten jüdischen Neugeborenen zu baden.

Doch in der Nacht vor dem Auszug wurden unsere Vorväter gebeten, ein Lamm zu schlachten, um sein Blut an die Türpfosten ihrer Häuser zu streichen. Durch dieses Zeichen wurde verhindert, dass die Plage des Sterbens aller erstgeborenen Ägypter die Häuser der Israeliten treffen würde. Somit waren alle Israeliten in Sicherheit. Kurz darauf verließen unsere Vorväter Ägypten.

Salzwasser

Der nächste Artikel ist der Karpas (dargestellt durch ein Stück Zwiebel, Sellerie oder Kartoffel), der ins Salzwasser getunkt wird. Salzwasser erinnert an die Tränen der Sklaven, und wird daher mit Versklavung in Verbindung gebracht.

Als unsere Vorväter sich aus Ägypten in die Wüste begaben, waren sie noch nicht frei. Noch konnten die Ägypter sie einholen, nach Ägypten zurückbringen und wieder versklaven, - was diese ja auch versuchten. Erst als das Schilfmeer überquert und die ägyptische Armee ertränkt war, konnten sich unsere Vorväter wirklich frei fühlen. Daher ist es eigentlich das Meer, das die Befreiung aus der Versklavung endgültig machte, und das durch das Salzwasser symbolisiert wird.

Mazza

Nachdem wir den Karpas gegessen haben, brechen wir die mittlere Mazza. Denn Mazza ist das "Brot" unserer Vorväter während ihrer Versklavung in Ägypten. Wir sagen sogar am Anfang der Haggada: "Das ist das Brot der Bedrängnis, das unsere Vorfahren in Ägypten aßen..."

Im Britischen Museum befindet sich ein ägyptisches Brot als Grabbeigabe aus der Pharaonenzeit. Es hat die Form einer runden handgebackenen Schmura Mazza, nur um einiges dicker. Das Brot im Museum ist das Brot der Reichen. Die Mazza der Sklaven war viel dünner, so dass der Zeitaufwand zum Backen viel kleiner und die Mazza viel schneller gegessen war. Entsprechend konnte der ägyptische Aufseher die Pausen der Israeliten kurz halten, damit ihnen wenig Zeit zur Erholung und zum Nachdenken über ihr Schicksal blieb. Die Israeliten wurden gleichermaßen physisch wie psychisch versklavt. Es bedurfte vieler Jahre, um sie langsam aus dieser Sklavenmentalität zu befreien.

Doch unsere Vorväter aßen die Mazzot nicht nur als Sklaven, sondern auch nach jener Plage, bei der die erstgeborenen Ägypter starben. Nunmehr hatten es die Ägypter sehr eilig, die Israeliten aus dem Land zu bekommen und ließen ihnen nicht einmal die Zeit, angemessenes Brot zu backen. Die Israeliten aßen auf dem Weg in die Freiheit dieselben Mazzot, wie während ihrer Versklavung. Doch diesmal war es das „Brot der Freiheit“! Dünn waren die Mazzot unserer Vorfahren nur deshalb, weil sie zum Verschwinden so plötzlich genötigt wurden.

Die bitteren Kräuter

Die ideale Verkörperung der bitteren Kräuter ist Lattich, was zwar verwunderlich erscheint, wofür es jedoch einen Grund gibt, denn der Lattich symbolisiert einen sehr wesentlichen Grundsatz bezüglich der Beziehung zwischen Versklavung und Freiheit.

Die Lattichblätter sind nicht bitter; besonders die junge Triebe schmecken knackig und süß. Diese Blätter aber sprießen aus einem weiß-grünen, sehr bitteren Pflanzenstengel. Offensichtlich symbolisiert dieser Stengel die Versklavung, während die süßen grünen Blätter für die Freiheit stehen.

Wir lernen hier ein weiteres Prinzip des Begriffes „Freiheit“ kennen, die wir erst richtig zu schätzen wissen, wenn sie in der Versklavung verwurzelt ist. Frei Geborene betrachten Freiheit als selbstverständlich, und wir wachen morgens nicht voller Dankbarkeit mit dem Ruf auf: "Ist das toll, frei zu sein!" Wer hingegen im Gefängnis war, kann das schon eher nachvollziehen, - und genauso verhielten sich unsere Vorfahren, nachdem sie Ägypten verlassen hatten.

Charoset

Wenn Charoset sachgerecht zubereitet wird, erinnert sein Aussehen an den Lehm, aus dem unsere Vorväter Ziegelsteine herstellten. Auch solche „Schlammbacksteine“ gibt es im Britischen Museum mit etwas integriertem Stroh zu sehen. Diese Ziegelsteine tragen den königlichen Stempel von Ramses II, der zumindest als Mittäter an der Versklavung fungierte. Daher erinnern uns Charoset an die harte Fronarbeit, mit der unsere Vorväter geplagt wurden. Doch beim Essen von Charoset passiert etwas anderes: Charoset schmeckt süß, - ein Geschmack, den Sklaven niemals kannten. Das lehrt uns, dass selbst bei der grauenvollsten Sache das wahre Wesen dieser Welt Süße ist, und alles schließlich zu unserem Besten geplant wurde.

Schenkelknochen und Ei

Außer diesen Nahrungsmitteln, in denen die Dualität zwischen Sklaverei und Freiheit zum Ausdruck kommt, befinden sich auf dem Seder-Teller noch ein angebranntes Ei und ein gegrillter fast fleischloser Schenkelknochen. Üblicherweise wird dafür ein Hühnchenhals verwendet. Schenkelknochen und Ei sind weder mit Sklaverei noch Freiheit verbunden, sondern erinnern an den Heiligen Tempel, indem unsere Vorfahren das Pessach-Lamm darbrachten.

Es gehört zu jedem jüdischen Fest, dass wir des Tempels gedenken, der im Mittelpunkt aller Festlichkeiten stand und hoffentlich bald wieder stehen wird. An Hochzeiten erinnert uns das zerbrochene Glas an seine Zerstörung, im Alltag erinnert uns das Salz an die Darbringungen, die uns dem Ewigen näher brachten und die ohne Tempel undenkbar sind, und an Pessach übernehmen der Schenkelknochen und das Ei auf dem Seder-Teller diese Aufgabe.

Das Ei verkörpert das Kurban Chagiga (Festtagsopfer), - ein integraler Bestandteil der drei Wallfahrtsfeste (Pessach, Schawuot & Sukkot). Der Schenkelknochen repräsentiert das Pessach-Lamm. Es wird über dem Feuer gegrillt, um uns an die Pessach-Darbringung zu erinnern. Doch wird es, bis der Tempel wieder aufgebaut ist, auf keinen Fall am Seder-Abend gegessen. Schließlich wollen wir ja kein Pessach-Lamm essen, bevor der Tempel wiedererbaut ist.

Symbole sind ein sehr wirkungsvoller Weg, abstrakte Ideen verständlich werden zu lassen. Wäre jedoch das Ziel ein rein intellektuelles Verständnis, dann würde sich eine Pessach-Vorlesung besser eignen. Die Übertragung der Botschaft des Pessach-Seders ist mit einer unterschwelligen "Werbung" vergleichbar, bei der die Mitteilung des Pessach-Seders von uns nicht über den Intellekt, sondern direkt durch praktische Ausführung von G-ttes Geboten aufgenommen wird. Es gibt allerlei „Arten von Ägypten“, die uns gefangen halten: Ein materielles Ägypten, wie z.B. Hypotheken, feste Arbeitsstelle, ein psychologisches Ägypten, wie z.B. zwanghaftes Festhalten an gewissen Lebensstandards, ein spirituelles Ägypten, wie z.B. Weltanschauungen, die unsere Verbindung zum Ewigen als nebensächlich überflüssig betrachten und dem materiellen Wohlstand die oberste Priorität einräumen. Es wird nicht bestritten, dass materielle Ansprüche gerechtfertigt sind, doch sollten wir dadurch unser spirituelles Leben nicht vernachlässigen, denn wir sind nicht aus Ägypten geflohen, um Sklaven eines materiellen Standards zu werden, nur weil ihn die Umwelt "in" findet.

Indem wir uns genau an die Gebote des Ewigen halten, die uns durch unsere Vorväter übertragen wurden, können wir uns von dieser absolut wünschenswerten Handlung inspirieren lassen, aus unserem aktuellen Ägypten auszubrechen, welche Form es auch immer angenommen haben mag.