Frage?
Etwas, was ich schon immer wissen wollte: Traditionell beenden wir den Pessach-Seder mit dem Wunsch: “nächstes Jahr in Jerusalem!“ Was, wenn man schon in Jerusalem lebt? Sagt man dann “dieses Jahr in Jerusalem!” oder lässt man es dann einfach weg?
Antwort!
Man kann kilometerweit von Jerusalem entfernt sein, selbst wenn man dort lebt. Und man kann auf der anderen Seite der Welt sein, aber dennoch nur einen Schritt entfernt – denn Jerusalem ist weit mehr als nur eine Stadt. Es ist ein Ideal, das zu erreichen wir versuchen.
Die jüdische Geschichte kann als eine lange Reise von Ägypten nach Jerusalem zusammengefasst werden. Abgesehen davon, dass sie geografische Ortsangaben darstellen, so symbolisieren sie auch zwei diametrale spirituelle Zustände. Die Reise von Ägypten nach Jerusalem ist eine spirituelle Odyssee. Als Volk und Individuen zugleich haben wir zu jeder Zeit die Sklaverei Ägyptens mit dem Ziel, das verheißene Land zu erreichen, verlassen. Durch die Analyse des psychologischen Ägyptens und des inneren Jerusalems werden wir erkennen, dass dies ein Weg ist, den wir immer noch beschreiten.
Der Hebräische Name für Ägypten ist „Mizrajim“, was „Grenzen“, „Einschränkungen“ und „Hindernisse“ bedeutet. Es repräsentiert einen Zustand, in dem unsere Seelen in unseren Körpern gefangen sind, materiellen Verlangen untertan und körperlichen Begrenzungen unterworfen. Eine Welt, in der Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und Heiligkeit Geiseln von Korruption, Selbstsüchtigkeit und Egoismus sind.
Jerusalem bedeutet “Stadt des Friedens” – ein Platz des Friedens für Körper und Seele, Himmel und Erde – das Ideal und die Realität. Wenn unser Körper nicht ein Gefängnis für unsere Seele, sondern eher ein Vehikel für die Ausdrücke der Seele wird; wenn wir unsere Leben nach unseren Idealen anstatt unseren Gelüsten führen; wenn die Welt Güte und Großzügigkeit über Profit stellt – dann sind wir in Jerusalem, wir sind in Frieden mit uns selbst und der Welt.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Auto – im Stau. Sie kommen zu spät zu einem wichtigen Treffen und Sie bemerken, wie jemand versucht, von einer Seitenstraße aus auf Ihre Spur zu kommen. Sie haben die Wahl: nett sein und reinlassen oder mit den eigenen Bedürfnissen vereinnahmt zu sein und weiterzufahren.
Falls Sie niemanden reinlassen – begründet durch Ihre Gedanken, wie spät Sie doch seien – dann sind Sie immer noch in Ägypten. Ihr Eigennutz hat über Ihre Güte gesiegt.
Wenn Sie Ihre eigenen Interessen überwinden und jemanden reinlassen, dann haben Sie soeben Ägypten verlassen. Sie haben Ihrer eigenen Güte die Möglichkeit gegeben, Ihren instinktiven Eigennutz zu besiegen. Sie sind raus aus Ägypten, aber noch nicht in Jerusalem.
In Jerusalem würde Sie andere automatisch reinlassen. Ihr wichtiges Treffen würde unbedeutend werden angesichts der Möglichkeit, jemandem einen Gefallen zu tun. Sie würden Ihre eigennützige Natur nicht besiegen müssen – ihre Natur wäre von sich aus gut und selbstlos. Es gäbe keinen Grund, in der Stadt des inneren Friedens einen Kampf zu führen, um Gutes zu tun – es würde ganz natürlich geschehen. Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen ist – aber ich bin noch nicht da.
Das jüdische Volk wurde in Ägypten geboren, in Sklaverei. Aber ihnen wurde gesagt, dass auf der anderen Seite einer großen Wüste ihre Bestimmung läge, ihr Gelobtes Land. Als unsere Vorväter vor 3317 Jahren und ein paar Wochen aus Ägypten auszogen, unternahmen sie die ersten Schritte auf einer langen Reise nach Jerusalem. Ihre Reise setzen wir fort. Allerdings sind wir noch nicht angekommen. Selbst wenn man in der Stadt namens Jerusalem lebt: solange es Leid, Ungerechtigkeit und Unheiligkeit gibt – so lange haben wir das Gelobte Land noch nicht erreicht. So lange wir Sklaven unserer eigenen negativen Instinkte und eigennützigen Gelüsten sind, so lange kämpfen wir darum, Ägypten zu verlassen.
Wenn wir am Seder sitzen, erkennen wir, dass ein weiteres Jahr vorbei ist und wir die noch vollenden müssen. Aber wir werden dort ankommen. Wir sind um einiges näher am Gelobten Land als wir es letztes Jahr waren. Wir sind einige Schritte weiter im Freiheitsmarsch, der Generationen überspannt hat.
Vielleicht werden dieses Jahr unsere Bemühungen, wir selbst und die Welt besser zu sein, die Worte der Haggada erfüllen:
Dieses Jahr sind wir hier, nächstes Jahr werden wir im Lande Israel sein. Dieses Jahr sind wir Sklaven, nächstes Jahr werden wir frei sein.
Nächstes Jahr in Jerusalem ... wortwörtlich.
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