Es ist indes jedem klar und verständlich, dass zwischen dem Begreifen der Kabbalisten, wie R. Schimon bar Jochai und unser Meister R. Jizchak Lurja sel. A., das ein Begreifen mittels Weisheit und Wissen ist – und dem prophetischen Erfassen unseres Meisters Mosche, Friede mit ihm, und der anderen Propheten, das in der Tora als tatsächliches Sehen beschrieben wird, ein bedeutender Unterschied besteht. „So wirst du Meine Rückseite schauen“1; „Und ich sah G‑tt“2; „Und der Ew‑ge erschien ihm“3. Obschon [der Begriff „Sehen“] als Metapher verwendet wird und nicht tatsächliches Sehen mit dem physischen Auge aus Fleisch beschreibt4, hat das Vergleichsobjekt nichtsdestoweniger dem Beispiel zu ähneln. So übersetzt auch der Targum das genannte „Wajera Ejlaw HaSchem“5 mit „Und [der Ew‑ge] wurde ihm offenbart etc. pp.“, somit eine Offenbarung andeutend, dass sich ihm der verborgene G‑tt, gesegnet sei er, in einem Aspekt der Offenbarung offenbarte. Dies trifft beim Begreifen der Kabbalisten nicht zu. Ihnen offenbarte sich G‑tt, gesegnet sei Er, nicht auf manifeste Weise; sie begreifen vielmehr die Geheimnisse der Weisheit, das, was ihnen verborgen und von ihnen entfernt ist. [Unsere Meister sel. A.] sagten daher: „Ein Weiser ist besser als ein Prophet“6, denn durch seine Weisheit kann er weit über die Stufen hinaus begreifen, die durch Offenbarung zu den Propheten in ihrer prophetischen Vision herabkommen können. Denn bloß die niedrigsten Stufen, die Stufen von Nezach-Hod-Jesod-Malchut nämlich, können zu [den Propheten] herabsinken und ihnen offenbart werden. Sind sie es doch, die stets absinken und vom Emanator zum Empfänger im Aspekt Mochin und Lebenskraft offenbart werden. So ist den Kennern der verborgenen Weisheit bekannt, dass sich Nezach-Hod-Jesod-Malchut der höheren [Ebene] in die niedrigere [Ebene] kleiden, um sie zu beleben7. Sie sind die Kelim der Strömung und des Hinabtragens der Lebenskraft vom Höheren zum Niederen, in allen Welten und auf allen Stufen. Daher sind auch sie es, die den Propheten im Aspekt tatsächlicher Offenbarung offenbart werden. In diese [vier Sefirot] ist das Licht der Bina gekleidet, der Aspekt des Verständnisses von G‑ttlichkeit aus dem Licht des gesegneten Ejn Sof8.
Und in [Bina] sind die äußerlichen Aspekte von Chochma gekleidet, die eine Stufe darstellen, die den Intellekt und das Verständnis der gesegneten G‑ttlichkeit überragt. Denn der Begriff Chochma weist auf den Ursprung von Intellekt und Verständnis9. Deshalb wird im Sohar festgestellt: „Die Tora geht aus Chochma hervor.“10 Denn die Gründe für die Gebote wurden nicht offenbart11; sie übersteigen Intellekt und Verständnis12. Und selbst an gewissen Stellen, wo ein uns scheinbar verständlicher Grund offenbart und erklärt wurde, ist dieser Grund alleine, der uns verständlich scheint, nicht der allumfängliche und volle Grund; vielmehr sind in ihn der innerste Kern und die mystischen Grundsätze der Chochma gekleidet13, Intellekt und Verständnis übersteigend. Dasselbe gilt für jedes einzelne Wort, das den Mund des H.g.s.E. zu den Propheten verließ, wie im Tanachfestgehalten ist – handle es sich um Worte der Zurechtweisung oder die Erzählung von Begebnissen. In sie ist ein Aspekt g‑ttlicher Chochma gekleidet, der Intellekt und Verständnis übersteigt. Dies ist beim Grundsatz des Kri und Ktiv augenscheinlich14. Kririchtet sich nach dem uns offenbarten Verständnis, während Ktiv Intellekt und Verständnis übersteigt. Das heißt, ein bestimmtes Wort in seiner geschriebenen Form verfügt über kein verständliches „Gewand“, wohingegen es beim mündlichen Lesen sehr wohl über ein [solches] „Gewand“ verfügt15. Dasselbe gilt für die großen Buchstaben in Tanach16; sie stammen aus einer erhabenen Welt und leuchten von dort in Offenbarung, und nicht durch ein Gewand wie die übrigen Buchstaben.
Heutiger Tanja-Abschnitt
Iggeret HaKodesch, In der Mitte von Brief 19
Ex. 33:23; und siehe Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Jesodej HaTora 1:10.
Jes. 6:1.
Gen. 18:1.
Siehe Maimonides, More Nevuchim II, Kap. 36 ff.
„Und der Ew‑ge erschien ihm.“
Bava Batra 12a.
Siehe Ez Chajim, Schaar Druschej HaNekudot, Kap. 2.
Textvariante: … der Aspekt des Verständnisses von G‑ttlichkeit und dem Licht des gesegneten Ejn Sof.
Siehe oben, Likkutej Amarim, Kap. 18.
Sohar II, 62a, u.a.
Siehe Sanhedrin 21b.
Siehe Sohar III, 149b; 152a.
Wörtlich: „sind in ihn der innerste Kern und die geheimste Chochma gekleidet“.
Die Lesung der Heiligen Schrift (Kri) weicht manchmal von ihrer Schreibung (Ktiv) ab. Ein Beispiel ist der Vers „Wisset, dass der Ew‑ge G‑tt ist, Er hat uns geschaffen we‑lo anachnu, Sein Volk und die Herde Seiner Weide“ (Ps. 100:3). Die Ktiv-Form des Wortes we‑lo endet mit einem Alef ( ולא ), während die Kri-Form mit einem Waw ( ולו ) endet. Der letzteren Version zufolge ist der Vers leicht verständlich: „Wisset, dass der Ew‑ge G‑tt ist, Er hat uns geschaffen und Sein sind wir …“ Die Ktiv-Form des Verses hingegen lautet übersetzt: „… Er hat uns geschaffen und nicht wir …“ Wiewohl die Ktiv-Version tiefe Bedeutung auf der Ebene mystischer Torainterpretation birgt, erscheint sie in ihrer einfachen Bedeutung schwer verständlich. (Für die Deutung der Ktiv-Version siehe u.a. Sohar I, 120b; R. Menachem Mendel von Lubawitsch, Or HaTora (Jahel Or) ad loc.; R. Samson Rafael Hirsch ad loc. u.a.; vgl. auch den Kommentar Raschis ebd.; Anmerkung von R. Menachem M. Schneerson von Lubawitsch, zitiert in Josef Weinberg, Schiurim BeSefer HaTanja (Jiddisch), New York 1986, Bd. IV, S. 1506.)
Siehe Sohar I, 120b; vgl. aber den Kommentar Raschis zu Ps. 100:3.
In der Schriftlichen Tora sind einige wenige Buchstaben auffallend groß geschrieben; z.B. Gen.1:1 בראשית – „Am Anfang (schuf G‑tt den Himmel und die Erde.)“; Ex. 34:14: לא … לאל אחר – („Du sollst dich nicht niederwerfen vor) einem anderen Gott.“. Zu begutachten sind diese Buchstaben in jeder Torarolle und in gewissen Drucken der Heiligen Schrift, wie etwa Pentateuch mit deutscher Übersetzung von J. Wohlgemuth und J. Bleichrode, Basel 1997.