Bei unserem Preisen und Loben von G‑tt als „Gnadenvoller, der immer wieder [marbe] verzeiht“, findet ausdrücklich das Wort „marbe“ Verwendung. [Auch] bei Esra steht „reichlich vergebend“1. Dies bedeutet: Es ist die menschliche Eigenschaft, dass – wenn sich einer gegenüber dem zweiten versündigt hat und um Vergebung bittet, und es wird ihm vergeben, er danach aber seine Missetat wiederholt2 – es überaus schwer wird, ihm ein zweites Mal zu vergeben, und gewiss beim dritten und vierten Mal. Beim Maß des H.g.s.E. hingegen besteht kein Unterschied zwischen ein Mal und tausend Mal. Denn Vergebung ist ein Ausdruck des Attributs „Erbarmen“, und Seine heiligen Attribute sind weder beschränkt noch endlich, sondern unendlich, wie geschrieben steht: „Denn Sein Erbarmen ist nicht zu Ende.“3 In Bezug auf den Aspekt der Unendlichkeit besteht keinerlei Unterschied zwischen einer kleinen und einer großen Zahl, denn Ihm gegenüber erscheint alles wie Nichts, und Er macht den Kleinen und den Großen gleich etc. pp.
Daher „entfernt Er jedes Jahr unsere Sünden“4. Und all die Sünden, die wir alljährlich in Al Chet bekennen, wiewohl zum wiederholten Male begangen, werden am Sühnetag des kommenden Jahres wieder bekannt, und so bis in Ewigkeit. „Jedes Jahr“ bedeutet nicht notwendigerweise ein jährliches [Vergeben]; vielmehr sagen wir dreimal täglich gleichfalls den Segen: „Gesegnet seist Du, Ew‑ger, Gnadenvoller, der immer wieder verzeiht.“5
Wie unsere Meister sel. A. sagten, wurde das Gebet anstelle der regulären Opferungen [Temidim] verfügt6. Das tägliche Opfer des Morgens erwirkte Sühne für die Sünden der [vorangegangenen] Nacht, das tägliche Opfer der Abenddämmerung erwirkte Sühne für die Sünden des [vorangegangenen] Tages, und auf diese Weise, von Tag zu Tag, bis in Ewigkeit. [„Jedes Jahr“ bedeutet] vielmehr, dass der Sühnetag schwerwiegende Sünden sühnt, während das reguläre Opfer, ein Ganzopfer, bloß für die Verletzung von positiven Geboten sühnte. In unserer Zeit tritt Gebet mit Umkehr [an Stelle der Opferungen], wie oben erwähnt wurde7.
Dies fällt nicht in die Kategorie von „Ich werde sündigen und umkehren“8. Dies trifft nämlich nur zu, wenn der Mensch während des Sündigens seinen [bösen] Trieb bewältigen hätte können, sich in seinem Herzen jedoch auf die Umkehr verließ. Da ihn [die Gelegenheit] zur Umkehr zum Sündigen bewegte, „wird keine Möglichkeit gewährt etc. pp.“ Und sogar hier heißt es ausdrücklich: „wird keine Möglichkeit gewährt“ – wenn er jedoch darauf drängt, seinen Trieb überwältigt, und umkehrt, nimmt man seine Umkehr an.
Wir hingegen, die täglich bitten „Verzeihe uns“, stellen dem die Bitte voran: „Und führe uns in vollkommener Rückkehr zu Dir zurück“ – damit wir nicht wieder zur Torheit zurückkehren. So bitten wir auch am Sühnetag: „Möge es Dein Wille sein, dass ich nicht wieder sündige.“ Die Gelegenheit zur Umkehr wird reichlich gewährt, wie unsere Meister sel. A. sagten: „Wer kommt, um sich [von seiner Sünde] zu reinigen, dem gewährt man Unterstützung.“9 Ausdrücklich: „wer kommt“ – [was impliziert, dass man] im Augenblick, da man kommt [unterstützt wird]. Folglich werden auch Verzeihung und Vergebung umgehend gewährt.
ב"ה
Heutiger Tanja-Abschnitt
Iggeret HaTeschuva, In der Mitte von Kapitel 11
Fußnoten
1.
Bemerkenswerterweise scheint dieser Vers weder im Buch Esra, noch in den restlichen Büchern der Schriftlichen Tora auf; siehe die Tanja-Kommentare diesbezüglich.
2.
Wörtlich: „zu seinem Bösen zurückkehrt“.
3.
Klgl. 3:2.
4.
Aus dem Ritus für den Sühnetag.
5.
Siehe Maamarej Admur HaSaken 5570, S. 51; zitiert in Or HaTefila, Leket Biurej Tefila MiSifrej Chassidut Chabad, New York 1990 (2. Auflage), Bd. 1, S. 58.
6.
Berachot 26a; siehe R. Schneor Salman von Ljadi, Schulchan Aruch, Orach Chajim 260:89.
7.
Kap. 10.
8.
Siehe Mischna Joma 8:9.
9.
Schabbat 104a; Joma 38b.