Damit wird verständlich, warum unsere Meister sel. A. so stark den Vorzug der Wohltätigkeit betonten und erklärten, sie wiege alle Gebote auf1. Im gesamten Jerusalemer Talmud wird Wohltätigkeit einfach als „das Gebot“ bezeichnet2, denn es war der Sprachgebrauch, das Spenden einfach als „das Gebot“ zu bezeichnen, weil es den Kern der praktischen Gebote darstellt und sie alle übertrifft. Denn alle [Gebote] dienen bloß dem Emporheben der belebenden Seele zu G‑tt, weil sie es ist, die sie erfüllt und sich in sie kleidet, wodurch sie aufgeht im Licht des gesegneten Ejn Sof, das in sie gekleidet ist. Nun wird man kein anderes Gebot finden, in das die belebende Seele im selben Ausmaß gekleidet wäre wie in das Gebot des Spendengebens. Denn in alle anderen Gebote kleidet sich nur eine einzige Kraft der belebenden Seele, und dies ausschließlich zur Zeit der Gebotstat. Im Fall von Spenden jedoch, die der Mensch von der Mühe seiner Hände gibt, kleidet sich die gesamte Kraft seiner belebenden Seele in die Ausführung seiner Arbeit oder einer anderen Beschäftigung, mit der er dieses Geld verdiente. Wenn er dieses Geld spendet, steigt seine gesamte belebende Seele zu G‑tt empor. Auch wenn er seinen Lebensunterhalt nicht durch eigene Anstrengung erwirbt, [ist es so, dass] er mit diesem Geld für das Leben seiner belebenden Seele Notwendiges erwerben könnte, also gibt er vom Leben seiner Seele für G‑tt. Deshalb sagten unsere Meister sel. A., dass [Wohltätigkeit] die Erlösung nahebringt3: Mit einem einzigen Akt der Wohltätigkeit hebt der Mensch einen großen Teil der belebenden Seele empor; mehr von ihren Kräften und Aspekten, als er durch die Ausführung mehrerer anderer praktischer Gebote emporheben könnte.

Dass unsere Meister sel. A. sagten: „Das Torastudium wiegt alle Gebote auf“4, rührt daher, dass das Torastudium mit Wort und Gedanke geschieht – den inneren Gewändern der belebenden Seele. Ferner werden Wesen und Essenz der CHaBaD-Aspekte von Kelipat Noga in der belebenden Seele tatsächlich von der Heiligkeit absorbiert, wenn der Mensch mit Konzentration und Intellekt Tora lernt.

Dem Wesen und der Essenz der Attribute – Chessed, Gevura, Tiferet etc. – können die Bejnonim jedoch nicht Herr werden, um sie in Heiligkeit zu wandeln, und dies, weil das Böse in den Attributen stärker ist als in Chochma, Bina und Daat; dort zehrt [das Böse mehr Lebenskraft] von der Heiligkeit, wie den Kennern der esoterischen Weisheit5 bekannt ist.6

Darüberhinaus gilt – und dies ist der wichtigste Aspekt von allen in der Überlegenheit des Toralernens über alle anderen Gebote, basierend auf dem oben7 im Namen des Tikkunim Wiedergegebenen –, dass die 248 Gebote die 248 Gliedmaßen des Königs repräsentieren. So wie beispielsweise beim Menschen hienieden keinerlei Vergleich oder Ähnlichkeit besteht zwischen der Lebenskraft seiner 248 Gliedmaßen und der Lebenskraft seines Gehirnes, d.h. des in die drei Aspekte Chochma, Bina und Daat geteilten Intellektes, genau so verhält es sich, allegorisch gesprochen und durch myriadenfache Trennungen getrennt, mit dem Schein des Lichtes des gesegneten Ejn Sof, das in die praktischen Gebote gekleidet ist, im Vergleich mit dem Schein des Ejn Sof-Lichtes in den CHaBaD-Aspekten der Weisheit der Tora, jedermann gemäß seinem Intellekt und seiner Auffassungsgabe. Zwar begreift er nur die materielle Bedeutung, aber die Tora wird mit Wasser verglichen8, das von einem hohen Ort herabkommt etc., wie oben erklärt wird9.

Nichtsdestotrotz sagten unsere Meister sel. A.: „Nicht das Studium ist das Wesentliche, sondern die Tat.“10 Es steht auch geschrieben: „Heute, auf dass du sie ausübest.“11 Und man vernachlässigt das Torastudium zwecks Erfüllung eines praktischen Gebotes im Fall, dass es nicht durch andere ausgeführt werden kann12. Denn „dies ist der gesamte Mensch“13, und der Sinn seiner Erschaffung und seines Herabkommens auf diese Welt, damit der Gesegnete ausgerechnet in den unteren Welten eine Wohnstätte habe, um Finsternis in Licht zu wandeln, und damit die Herrlichkeit G‑ttes ausgerechnet die gesamte materielle Erde fülle, „und alles Fleisch zusammen wird [G‑ttlichkeit] schauen“14, wie oben erwähnt wurde15.

Wenn andererseits aber [das Gebot] durch andere erfüllt werden kann, vernachlässigt man nicht das Torastudium16, obwohl die gesamte Tora nicht mehr als eine Erklärung der praktischen Gebote ist17. Der Grund liegt darin, dass [die Tora] der CHaBaD-Aspekt des gesegneten Ejn Sof ist. Wenn sich der Mensch damit beschäftigt, zieht er das Licht des gesegneten Ejn Sof auf sich mit unendlich mehr Kraft und einem größeren Abschein als der Abschein und das Herabziehen durch die Gebote, die „Gliedmaßen“ des Königs. Dies ist es, was Rav Scheschet sagte: „Freu’ dich, meine Seele! Für dich [lerne ich] Schriftliche Tora, für dich [lerne ich] Mischna18, wie an anderer Stelle ausführlich erklärt wird19.

Dieser Fluss und dieser Schein, den der Mensch durch die Beschäftigung mit der Tora vom Schein des Lichtes des gesegneten Ejn Sof auf seine eigene Seele und auf die Seelen ganz Israels herabbringt – dies ist, wie im Folgenden erklärt wird20, die „Schechina, Kenesset Jisrael“, der Ursprung aller Seelen Israels – wird mit dem Ausdruck Keria [„Rufen“] bezeichnet, Kore BaTora [„mittels der Tora rufen“]21. Dies bedeutet, durch die Beschäftigung mit der Tora ruft man gewissermaßen den H.g.s.E. zu sich, wie ein Mensch seinem Freund zuruft, zu ihm zu kommen, oder wie ein kleines Kind seinem Vater zuruft, zu ihm zu kommen, damit sie zusammen seien, damit es nicht von ihm getrennt sei und alleine bleibe, G‑tt behüte. Dies ist die Bedeutung des Verses: „Nahe ist G‑tt allen, die Ihn rufen, allen, die Ihn in Wahrheit rufen“22 und „es gibt keine Wahrheit außer Tora“23. Das heißt, man ruft den H.g.s.E. ausdrücklich durch die Tora, im Gegensatz zu jemandem, der Ihn nicht durch die Beschäftigung mit der Tora ruft, sondern einfach so „Vater! Vater!“ schreit, wie der Prophet über ihn klagt: „Und niemand ist, der Deinen Namen anruft etc.“24, wie andernorts geschrieben steht25. Darüber sinne der Verständige nach, um während der Beschäftigung mit dem Torastudium große Ehrfurcht auf sich zu ziehen, wie oben erklärt wurde (Kap. 23 ).