Seit der Verbreitung der o.g. Hefte unter unserer gesamten o.g. Gemeinschaft der Chassidim in vielfachen Abschriften aus den Händen verschiedener und absonderlicher Schreiber1, vermehrten sich die Schreibfehler aufgrund der Vielzahl an diversen Abschriften in unerhörtem Maß. Aus diesem Grund bewegte der Geist die auf der vorhergehenden Seite erwähnten, vornehmen Herren2 dazu, die o.g. Hefte mit persönlichem und finanziellem Aufwand zu drucken, gänzlich von Spreu und Fehlern der Schreiber gereinigt und gründlich überprüft. Für diese würdige Tat sage ich „[Eure] Kraft erstarke“.
In Anbetracht der Tatsache, dass der Vers explizit sagt: „Verflucht sei, der seines Nächsten Grenze verrückt“3, und „,verflucht‘ bedeutet: eine Verwünschung auf ihn, ein Bann auf ihn“4 etc. pp., G‑tt behüte, erteile ich „als Beweis von Judäa als Stütze für den Schriftvers“5 allen Druckern ein ausdrückliches Verbot, die o.g. Hefte nachzudrucken, entweder selbst oder durch ihre Vertretung, ohne Erlaubnis der oben Erwähnten im Laufe von fünf Jahren ab Druckende. Wer dem Folge leistet, denen wird Gutes widerfahren und mit Gutem werden sie gesegnet werden.
Dies sind die Worte des Kompilators des o.g. [Werkes] Likkutej Amarim.
Heutiger Tanja-Abschnitt
Likkutej Amarim, Ende von Einleitung des Kompilators
Die Worte „aus den Händen verschiedener und absonderlicher Schreiber“ sind möglicherweise eine Anspielung auf zwei Arten von Schreibfehlern, die in den Kopien des Tanja zu finden waren – irrtümliche wie auch vorsätzliche.
Zwanzig Jahre lang hatte R. Schneor Salman an Entwürfen des Tanja gefeilt, bis das Manuskript keinen einzigen überflüssigen oder fehlenden Buchstaben aufwies. Erst dann gab er die Erlaubnis, den Text in handschriftlichen Kopien zu verteilen. Aufgrund der enormen Nachfrage und zahlreichen Kopien gelangten jedoch Fehler in den Text. Darüberhinaus gab es auch eine Gruppe von Menschen, die den Text vorsätzlich korrumpierten, um R. Schneor Salman häretische Lehren zuschreiben zu können, für die sie ihn in der Folge angreifen würden.
Die Aufzeichnungen von R. Joseph I. Schneersohn bieten zusätzliche Informationen (Kizzurim WeHearot, New York 1989, S. 137 ff.):
Im Jahr 5552 (1792) ließ der Alter Rebbe (R. Schneor Salman) wissen, dass er die Erstellung von Kopien vieler Kapitel aus seinem Manuskript von Likkutej Amarim erlauben würde. In der chassidischen Gemeinde sorgte die Nachricht für große Freude, und an vielen Orten machten sich Schreiber ans Werk. Um Fehler zu vermeiden, wurden ausschließlich geübte Schreiber mit einer klaren Handschrift zugelassen.
Ursprünglich überließ der Alte Rebbe den Schreibern nur die ersten 30 Kapitel seines Manuskripts; später erhielten sie weitere 13 Kapitel, und dann die restlichen Kapitel. Zu jener Zeit waren die Kopien der ursprünglich 51 Kapitel in einzelnen Kuntrejsim („Heften“) im Umlauf, die von den Chassidim (neben dem Namen „Tanja“) auch Sefer HaEzot genannt wurden – ein „Buch der Ratschläge“ für den Dienst an G‑tt.
Zwei Jahre später (5554/1794) begannen beim Alten Rebben Briefe mit Fragen zu den Kuntrejsim aus teils so entfernten Gegenden wie Rumänien und Galizien einzutreffen. Aus einigen der Fragen war deutlich zu ersehen, dass die im Umlauf befindlichen Kopien fehlerhaft waren, und das beunruhigte den Alten Rebben stark.
Im darauffolgenden Jahr (5555/1795) nahmen zwei Chassidim von hohem Ansehen, Reb Pinchas Schick und sein Schwager Reb Binjamin Kletzker an der Leipziger Messe teil. Dort kam Reb Binjamin zu Ohren, dass jemand die Kuntrejsim auf der Messe zum Verkauf anbiete. (Um den Verkäufer zu unterstützen) kauften sowohl er als auch Reb Pinchas ein Exemplar (obwohl sie schon ihre eigenen Kopien der Kuntrejsim besaßen).
Sie waren mit den Texten gut vertraut und machten bald die Entdeckung, dass die in Leipzig verkaufte Version zahlreiche Abweichungen aufwies. Nach einiger Prüfung wuchs in ihnen der Verdacht, dass es sich nicht bloß um Schreibfehler, sondern um vorsätzliche Fälschungen handle.
Die Abweichungen entstellten die Bedeutung des Tanja an manchen Stellen völlig und sollten den Alten Rebben diskreditieren, indem er als Autor erschien, der Fragen und Zweifel an grundlegenden Aspekten des Glaubens hegte. Damit sollten die Behauptungen über Häresie in der chassidischen Gemeinschaft seitens der Mitnagdim (Widersacher des Chassidismus) belegt werden.
Die zwei Chassidim kehrten umgehend zum Verkäufer zurück und gewannen sein Vertrauen, indem sie vorgaben, Gegner des Chassidismus zu sein. Sie fanden heraus, dass der Verkäufer tatsächlich ein erbitterter Feind des Alten Rebben war, dass er 600 gefälschte Exemplare mit sich hatte und dass 150 davon bereits einen Käufer gefunden hatten. Die Chassidim kauften die verbleibende Ware auf, und nach ihrer Rückkehr aus Leipzig wurde der Vorfall publik.
Anlass für die Fälschungen des Tanja waren offenbar das enorme Ansehen und die Popularität, die das Werk genoss und viele Hunderte dazu bewegt hatte, Chassidim zu werden. Alle 15.000 Exemplare der ersten Auflage waren in weniger als 1 Jahr verkauft, und in den darauffolgenden 2 Jahren wurden nicht weniger als 25.000 weitere Exemplare gedruckt.
Einige der führenden Gelehrten der Mitnagdim versuchten statt mit heimtückischen Fälschungen den Einfluss des Tanja zu mindern, indem sie das bis dahin kaum verbreitete Ethikwerk Lekach Tov neu auflegten und gratis verteilten.
Ein Jahr nach dem Leipziger Vorfall, im Jahr 5556 (1796) willigte der Alter Rebbe ein, die einzelnen Hefte in einem Buch zusammengefasst drucken zu lassen. Er schrieb im Vorwort, dass er wegen der vielen irrtümlichen Schreibfehler wie auch der vorsätzlichen Fälschungen sich gezwungen sah, zum Druck zu gehen.
Vor der Drucklegung bat sich jedoch der Alter Rebbe zwei Bedingungen aus: Erstens müssten R. Jehuda Lejb HaKohen und R. Meschulam Susil von Anipoli, zwei der herausragenden Schüler des Mesritscher Maggid, ihr Einverständnis geben. Und zweitens müsse das Werk anonym erscheinen.
Bezieht sich auf die zwei für den Druck Verantwortlichen, R. Schalom Schachna und R. Mordechai; siehe oben, Billigungserklärung von R. Meschulam Susil von Anipoli und Anmerkung 5, ebd.
Die in Deut. 27:17 und Deut. 19:14 untersagte Verschiebung von Grenzsteinen auf Grundstücken beschreibt auch alle benachteiligenden Vorgangsweisen, die im modernen Recht als Verstoß gegen das Urheberrecht, unlauterer Wettbewerb etc. bezeichnet werden.
Schevuot 36a; Maimonides, Mischne Tora, Hilchot Sanhedrin 26:3.
„Ist denn der Beweis von Judäa als untergeordnete (Od) Bestätigung für den Schriftvers nötig?“, fragt der Talmud (u.a. Kidduschin 6a), wenn eine ausdrückliche Schriftstelle als unumstößlicher Beweis für eine Rechtsmeinung vorliegt, als Begründung für diese Meinung aber ein nachrangiger Grund, wie etwa ein Brauch im Land Judäa, angeführt wird. Auch im vorliegenden Fall verbietet die Tora ausdrücklich Raubkopien, und doch erteilt auch R. Schneor Salman ein „ausdrückliches Verbot, die o.e. Hefte nachzudrucken“.