Beim Bejnoni gelüstet indes das Böse in der linken Herzkammer mit seiner angeborenen Stärke nach allen Genüssen dieser Welt, hat sich nicht ob seiner Geringfügigkeit dem Guten gegenüber aufgelöst und wurde nicht im Geringsten von seinem Platz gestoßen. Es fehlen ihm bloß die Herrschaft und die Macht, um sich in den Körperteilen auszubreiten, weil der H.g.s.E. zur Rechten des Wehrlosen steht, und hilft und seine g‑ttliche Seele erleuchtet. Daher wird er „wie ein Böser“ genannt, wie im Ausspruch unserer Meister sel. A.: „[…] und sogar wenn dir die gesamte Welt sagt, dass du ein Gerechter bist, sollst du dich selbst betrachten wie einen Bösen“1, und nicht als tatsächlichen Bösen. Er halte sich vielmehr für einen Bejnoni und schenke der Welt keinen Glauben, wenn sie sagen, das Böse in ihm sei dem Guten gegenüber aufgelöst, denn dies charakterisiert die Stufe des Gerechten. Er sei vielmehr der Ansicht, dass das Wesen und die Essenz des Bösen in ihrer vollen angeborenen Kraft und Stärke in der linken Kammer [seines Herzens] existieren, dass das Böse nicht im Geringsten verschwunden oder zugrunde gegangen ist. Im Gegenteil – das Böse hat im Lauf der Zeit an Stärke gewonnen, weil es der Mensch beim Essen und Trinken und bei anderem diesweltlichen Betreiben ausgiebig angewandt hat.

Sogar, wenn jemandes [einziger] Wille in der Tora G‑ttes liegt, die er Tag und Nacht um ihrer selbst willen lernt, stellt dies keinerlei Beweis dar, dass das Böse von seinem Platz gestoßen wurde. Vielleicht befinden sich vielmehr Wesen und Essenz [des Bösen] in voller Kraft und Stärke an ihrem Platz in der linken Herzkammer, und bloß seine Gewänder – Denken, Sprechen und Tun der tiergleichen Seele – kleiden sich nicht in das Gehirn, den Mund, die Hände und die übrigen Körperteile, weil G‑tt dem Gehirn die Herrschaft und Macht über das Herz gewährt hat. Die im Gehirn befindliche g‑ttliche Seele regiert daher über die „kleine Stadt“, über alle Gliedmaßen des Körpers, und macht aus ihnen „Gewandung“ und „Wagen“, durch die die drei Gewänder [der g‑ttlichen Seele] – Gedanke, Wort und Tat der 613 Toragebote – zum Ausdruck kommen.

Wesen und Essenz der g‑ttlichen Seele haben indes beim Bejnoni weder Herrschaft noch Macht über das Wesen und die Essenz der tiergleichen Seele, außer wenn in günstigen Augenblicken – wie etwa zur Zeit des Gebets u.Ä. – die G‑ttesliebe in seinem Herzen offenbart ist. Sogar dann hat [die g‑ttliche Seele] bloß Herrschaft und Macht inne2, wie geschrieben steht: „Ein Volk wird mächtiger als das andere“3 – „wenn eines aufsteht, fällt das andere, und wenn das andere aufsteht etc.“4 Wenn sich die g‑ttliche Seele anstrengt und die tiergleiche Seele im Ursprung der Kraft [Gevurot], der Verständnis [Bina] ist5, überwältigt, indem sie die Größe G‑ttes, des gesegneten Ejn Sof, erwägt und [dadurch] eine Feuergluten gleiche heftige Liebe zu G‑tt in der rechten Herzkammer gebärt, dann wird die Sitra Achra in der linken Kammer unterdrückt. Sie wird jedoch beim Bejnoni nicht gänzlich aufgelöst; [dies geschieht] ausschließlich beim Gerechten, über den es heißt: „Mein Herz ist hohl in meinem Inneren.“6 [Der vollendet Gerechte] verabscheut und hasst das Böse mit dem vollsten Maß des Hasses und der Abscheu, oder [im Fall des unvollendet Gerechten] nicht mit dem vollsten Hass, wie oben erklärt wurde7.

Für das [Böse] im Bejnoni gilt jedoch dasselbe wie für eine schlafende Person – sie kann aus ihrem Schlaf erwachen. So schläft gleichsam auch das Böse in der linken Herzkammer des Bejnoni während des Schema-Lesens und des Gebets, wenn sein Herz mit G‑ttesliebe brennt, doch kann es nach dem Gebet erneut erwachen.

Aus diesem Grund hielt sich Rabba für einen Bejnoni8. Und dies, obwohl sein Mund nicht vom Lernen verstummte9, und sein Wille bei Tag und Nacht in der Tora G‑ttes lag, mit Streben und Begehren und Verlangen und einer mit mächtiger Liebe nach G‑tt verlangenden Seele, so wie während des Schema-Lesens und des Gebets. In seinen eigenen Augen schien er ein Bejnoni zu sein, der den ganzen Tag über betet, wie unsere Meister sel. A. sagten: „Wäre es doch, dass der Mensch den ganzen Tag lang bete.“10

Nun wird diese beim Bejnoni erwähnte Qualität der Liebe, die beim Gebet durch ein Überwiegen der g‑ttlichen Seele etc. erlangt wird, im Vergleich mit der Stufe der Gerechten, die G‑tt mit der völligen Wahrhaftigkeit dienen, keineswegs wahrhaftiger Dienst genannt, weil [diese Liebe] nach dem Gebet vergeht und verschwindet; es steht jedoch geschrieben: „Die Lippe der Wahrheit hat Bestand für immer, doch für den Augenblick nur die Zunge der Lüge.“11 Dessen ungeachtet wird [diese Liebe] in Anbetracht der Stufe der Bejnonim vollkommener Dienst genannt – unter Berücksichtigung ihres Konzepts von Wahrhaftigkeit, jedermann gemäß seiner Stufe im Rang der Bejnonim. Somit bezeichne ich auch ihre Liebe während des Gebets als „die Lippe der Wahrheit, die Bestand hat für immer“. Denn ihre g‑ttliche Seele besitzt das Potential, diesen Aspekt der Liebe ständig von neuem zu erwecken, wenn sie tagtäglich während des Gebets Kraft sammelt dank der Vorbereitung, die für jede individuelle Seele gemäß ihrer Qualität und Stufe geeignet ist. Wahrheit nämlich ist die Eigenschaft Jaakovs12 – „der mittlere Riegel“ genannt13, „der von einem Ende bis zum andern geht“14, von den höchsten Graden und Rängen bis zu den niedrigsten aller Ränge. In jedem Grad und Rang durchdringt der Riegel den zentralen Punkt, welcher der Punkt und der Aspekt der Wahrheit dieses Ranges ist. Die Eigenschaft der Wahrheit ist „ein Erbe ohne Grenzen“; sie hat keine obere Begrenzung [und erstreckt sich] bis hin zu den höchsten Rängen; alle unteren Grade und Ränge sind wie nichts im Vergleich mit den höher liegenden Rängen und Stufen. (Wie den Kennern der esoterischen Weisheit15 bekannt ist, sind „Kopf“ und „Gehirn“ der unteren Ränge niedriger als „Fersen“ und „Füße“ der darüberliegenden Stufen; wie unsere Meister sel. A. sagten: „Die Füße der Chajot wiegen alles auf.“16)