Somit verstehen wir die Wortwahl im Ausspruch unserer Meister sel. A.: „Die Durchschnittsmenschen [Bejnonim] werden von beiden gerichtet“1, (d.h. sowohl vom guten als auch vom bösen Trieb.) Denn es steht geschrieben: „Er steht zur Rechten des Wehrlosen, ihn zu retten vor den Richtern seiner Seele.“2 Sie sagten nicht: „[Die Bejnonim] werden von beiden regiert“, G‑tt behüte. Denn wenn der böse Trieb nur die geringste Herrschaft und Macht in der „kleinen Stadt“ erringt, sei es auch nur kurzfristig, wird der Mensch zu dieser Zeit „Böser“ genannt.
Der böse Trieb aber ist – allegorisch gesprochen – nicht mehr als ein Richter und Anwalt3, der seine Rechtsmeinung kundtut. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise die endgültige gesetzliche Entscheidung, denn es gibt noch einen Richter und Anwalt4, der die Meinung des anderen anficht. Zwischen den beiden muss also eine Entscheidung fallen, und das endgültige Urteil liegt beim Entscheidungsträger.
Ähnlich tut der böse Trieb seine Meinung in der linken Herzkammer kund. Vom Herzen steigt [seine Meinung] ins Gehirn, um erwogen zu werden. Augenblicklich wird dagegen Einspruch erhoben vom zweiten Richter, der g‑ttlichen Seele im Gehirn, die sich in der rechten Herzkammer, dem Sitz des guten Triebes, ausbreitet. Die endgültige Gesetzesentscheidung liegt beim Entscheidungsträger – dem H.g.s.E., der dem guten Trieb zu Hilfe kommt.5 Wie unsere Meister sel. A. sagen: „Ohne die Hilfe des H.g.s.E. könnte [der gute Trieb dem bösen Trieb] nicht beikommen.“6 Die Hilfe ist der Strahl des g‑ttlichen Lichtes, das die g‑ttliche Seele erleuchtet, um ihr die Überlegenheit und Herrschaft über die Torheit des Narren – des bösen Triebes – zu verschaffen, ähnlich der oben erwähnten7 Überlegenheit des Lichtes über die Finsternis.
Heutiger Tanja-Abschnitt
Likkutej Amarim, Beginn von Kapitel 13
Berachot 61b.
Ps. 109:31; „… vor den Richtern“ in der Mehrzahl bezieht sich auf die zwei Impulse, die die Taten des Menschen motivieren.
Im Original שופט ודיין. Beide Begriffe bedeuten wörtlich „Richter“.
Dies bedeutet nicht, dass die beiden Richter über ihre Standpunkte debattieren, sondern jeder weist die Meinung des „Kollegen“ entschieden zurück.
Obwohl bei einer Entscheidung mitunter die Meinungen beider Seiten teilweise berücksichtigt werden, kann eine Entscheidung auch ausschließlich zu Gunsten e i n e r Seite ausfallen. So in diesem Fall, wo G‑tt ausschließlich gemäß der g‑ttlichen Seele entscheidet.
Kidduschin 30b. Auf den ersten Blick ist schwer verständlich: Wenn jeder Jude eine g‑ttliche und eine tiergleiche Seele in sich trägt, die einander bekämpfen, und G‑tt dem guten Trieb beisteht, wie kann es dann Sünder geben? Die Antwort lautet: Nur wenn der Mensch selbst den Anfang macht und Maßnahmen ergreift, um seinen bösen Trieb zu überwältigen, dann erhält er dabei auch g‑ttlichen Beistand. Vgl. dazu Tanja, Iggeret HaTeschuva, Kap. 11: „Wer kommt, um sich zu reinigen, dem gewährt man Unterstützung.“ (Schabbat 104a; Joma 38b) – Wenn der Mensch die Initiative ergreift und „kommt, um sich zu reinigen“, dann „gewährt man Unterstützung“.
Kap. 12.